Neun Welten sind es, die der nordischen Sage nach wie ein Baum miteinander verbunden sind. Eine davon ist Asgard, eine weitere die Erde. Wegen groben Unfugs verbannt Gottvater Odin seinen angedachten Thronfolger Thor von einer Welt auf die andere. Aber weise, wie Odin eben ist, schließlich wird er von Tony Hopkins verkörpert, steckt hinter der Verbannung ein weit tieferer Sinn. All seiner Mächte beraubt, gibt die Verbannung Thor auf der Erde die Gelegenheit, sich oberkörperfrei zu zeigen, schließlich wird der Donnergott von Chris Hemsworth dargestellt. So kann sich die überdrehte Wissenschaftlerin Jane in tollpatschigem Eifer umgehend in den Superhelden verlieben, schließlich wird diese Jane Foster von Natalie Portman porträtiert. Und weil Asgards Angelegenheiten ausgerechnet in New Mexico ausgetragen werden, ruft das wieder einmal Agent Coulson auf den Plan, schließlich wird der von Clark Gregg gespielt, und der ist das verbindende Glied unter all den Marvel-Superhelden-Verfilmungen.
So vieles hätte bei dieser Verfilmung falsch laufen, schlecht inszeniert, massiv übertrieben oder einfach nur peinlich sein können. Dass nichts von dem eingetreten ist, kann man einem ganz einfachen Umstand zuschreiben. An THOR zeigt sich Hollywood, wie es grundsätzlich sein sollte, aber viel zu selten wirklich funktioniert. Viele kleine kreative Abteilungen verschmelzen zu einem großen Ganzen. Hier stellt sich nicht ein künstlerischer Aspekt vor oder über den anderen. Es ist ein harmonisches Gefüge, das nicht wirklich perfekt ist, aber gesamt gesehen niemanden enttäuscht. Bildkompositionen, Farbgebung, Dialoge, Musik und Kameraführung. Der Film ist selbstreflektierend an den richtigen Stellen, gibt sich bierernst zum richtigen Zeitpunkt, wirft wohldosiert mit Zitaten um sich, ist spannend, lustig, schlichtweg aufregend, und profiliert sich mit perfektem Timing in der Erzählstruktur.
THOR kann gar nicht perfekt sein. Es kann dem Film überhaupt nicht gelingen, das große Ganze zum perfekten großen Ganzen zusammenzufügen. Als Genre-Film muss er zu viel berücksichtigen. Ein 150-Millionen-Dollar-Budget möchte sich eben auch wieder rückfinanziert wissen. Doch wenn der Comic-Geek genauso zurücksteckt wie der nach Unterhaltung geifernde Kino-Heide, kommt es zum cineastischen gemeinsamen Nenner, wo sich THOR als verbindendes Glanzstück erweisen kann.
Man kann viel spekulieren, was welche Entscheidung in den Etagen der Studio-Obersten bewirkt haben möchte. Doch letztendlich ist die Wahl eben auf Kenneth Branagh als Regisseur gefallen. Und man kann viele Gründe zusammentragen, die gegen den Shakespeare-Verfilmer sprechen, wie man genau so viele Argumente aufzählen könnte, die fälschlicherweise zu dem Schluss führen würden, dass Kenneth Branagh am Ende eine schlechte Entscheidung als Regisseur gewesen ist.
Der relative unbekannte Chris Hemsworth kann den Film mit seinem Charisma und seinem exzellenten Körperbau genauso tragen wie die in Aasgard sehr altertümlich wirkenden Dialoge sich glänzend mit der modernen Sprache in den Szenen von New Mexico ergänzen. Überhaupt ist dieser Film ein überraschendes, aber überraschend funktionierendes Misch-Masch aus Branaghs Shakespeare-Dramatik und dem dramaturgischen Zugeständnis an ein weniger versiertes Publikum.
Dass dieser Film, wie jede andere Comic-Verfilmung auch, bei einem bestimmten Personenkreis keinen guten Stand haben wird, ist allein schon dem Umstand zu verdanken, dass es den Film überhaupt gibt. Aus den angestammten Fankreisen werden sich sicherlich auch wohlwollende Stimmen erheben. Doch viel wichtiger ist, dass ein Film wie THOR nicht von Comic-Lesern und Hardcore-Nerds allein leben kann. Der größte Anteil des zahlenden Publikums sind Zuschauer, die einfach nur unterhalten werden möchten. Und das macht einen Film dieser Größenordnung aus. Er muss sehr viele Schichten eines bereitwillig zahlenden, aber mitunter doch verwöhnten und manchmal auch ungerechten Publikums unterhalten können.
Eine amerikanisch inszenierte Produktion, die Namen wie Bifröst und Mjölnir einem klar denkenden Publikum als selbstverständlich verkaufen kann, hat ihre Arbeit einfach richtig gemacht. Es gibt bei allen Hollywood-Produktionen ein Für und Wider, und Thor macht keine Ausnahme. Aber er langweilt nicht, unterhält und weiß seine Akzente richtig zu setzen. Die reinen Computer-Animationen wurden in 3‑D generiert, die Aufnahmen mit Schauspielern in der Postproduktion zu 3‑D gerendert. Das ist der Produktion durchweg anzumerken, aber leider nicht mehr zu ändern. Es ist aber wiederum ein Beispiel dafür, dass 3‑D nicht das Allheilmittel in der Unterhaltungsindustrie darstellt. Der optische Unterschied von nachträglich konvertierten und in 3‑D bearbeiteten Szenen ist bei THOR in jeder Einstellung sichtbar.
Sei es drum, ob man es Heimdall oder Bifröst nennt. Kenneth Branagh ist der Mann, der aus einem mit Flügeln behelmten, mit Hammer ausgestatteten Supermann einen greifbaren Charakter formte. Und es gibt Darsteller, denen es leicht fällt, aus einer albern wirkenden Grundprämisse eine nachvollziehbare Situation zu formen. Sam Jackson hat für seinen Nick-Fury-Charakter einen neun Teile umfassenden Vertrag unterschrieben. Und bis 2014 werden erst sechs Teile davon erfüllt sein. Demnach kann man sich als gemeiner Kinofreak noch gar nicht ausmalen, was die Marvel-Studios mit ihren auf einzelne Superhelden ausgerichteten und auf die AVENGER-Serie speziell geplanten Fortsetzungen alles in Vorbereitung haben.
Doch es sollte niemanden wundern, wenn man nochmals über den Namen Kenneth Branagh stolpert. THOR, als Welt voller mythischer, nordischer Sagen und weltlicher Problematik, ist ein Shakespeare-Stoff, der vom britischen Barden nicht besser verfasst worden wäre. Für einen nicht-comiversierten Kinogänger beweist THOR, das man berechtigte Hoffnung haben kann, sich auf kommende Marvel-Verfilmungen einzulassen. Aber Thor beweist auch, dass es eine ganze Reihe von kleinen und großen, schlecht zu berechnenden Komponenten gibt, um den besten gemeinsamen Nenner für Fans und Unbedarfte zu finden, der einen unterhaltsamen Kinoabend für jedermann garantiert.
THOR
Darsteller: Chris Hemsworth, Anthony Hopkins, Tom Hiddleston, Natalie Portman, Clark Gregg, Stellan Skarsgard, Kat Dennings, Colm Feore, Idirs Alba, Ray Stevenson, Jaimie Alexander, Josh Dallas, Tadanobu Asano und Rene Russo u.a.
Regie: Kenneth Branagh
Drehbuch: Ashley Edward Miller, Zack Stentz, Don Payne
Kamera: Haris Zambarloukos
Bildschnitt: Paul Rubell
Musik: Patrick Doyle
Produktionsdesign: Bo Welch
USA 2011 – zirka 114 Minuten
Paramount Pictures & Marvel Studios
Mehr Filmkritiken von Bandit (auch welche, die sich nicht mit Genrefilmen befassen) auf seiner Seite Abgeschminkt
Pressefotos Copyright Paramount & Marvel
Eine schöne Besprechung des Films! Und es hätte in der Tat so viel schiefgehen, gruselig lächerlich werden können … aber der Film hat die Gratwanderung zwischen reinem Nerd-Kult und grandiosen Kino-Abend für Jedermann virtuos hinbekommen. Ich bin mir sicher, dass diese gelungene Umsetzung gerade Kenneth Branagh zu verdanken ist, der für mich die ideale Schnittstelle zwischen »shakespearesken« und actiongeladenen Szenen darstellt.
UND: Oh ja! Die Vorfreude auf die kommenden Marvel-Verfilmungen wird immer größer!
Der Film ist in der Tat besser, als ich erwartet hätte. Zugegeben, ich erwartete nicht viel – unterhaltsames Popcorn-Kino eben – was »Thor« ja tatsächlich ist. Nicht erwartet hätte ich einem Film, der im Subgenre »Superheldenfilm« ganz oben mitspielt, denn der »Thor« gehört, anders als z. B. Spiderman, Batman oder Daredevil nicht zu den »coolen« und fassettenreichen Superhelden, mit denen man ohne rot zu werden Geschichten für Erwachsene erzählen kann. (Wenn man es kann – es gibt einige Batman-Filme, über die man besser schweigen sollte. ) Der Comic-Thor teilt mit Superman das erzählerische Problem, dass seine Superkräfte jedes irdische Maß sprengen. Daher war es ein geschickter Einfall, dass Thor seine Kräfte für einen großen Teil des Filmes los ist.
Ein Pluspunkt ist auch die Darstellung des Loki (Tom Hiddleston) : er ist angemessen zwielichtig und zwiespältig – und komplexer als ein gewöhnlicher Superheldenfilm-Bösewicht.
Mir gefallt, als langjähriger Fan der Marvel-Comics und als Fan der Mythologie, der Umgang des Film mit der nordischen Götterwelt – obwohl der Film einen angemessenen Sicherheitsabstand von den überlieferten Mythen hält.
Dass Loki anders als in der Mythologie, Thors Stiefbruder und nicht Odins Blutsbruder ist, wurde im Comic etabliert, aber der Film-Loki entspricht ansonsten ziemlich genau seinem göttlichen Vorbild: Er ist von Geburt ein Riest, Laufeyas Sohn, ein abgründiger, unberechenbarer und ambivalenter Trickster, der zu jeder Übeltat, aber unter Umständen auch zu jeder Heldentat fähig ist.
Bis auf Sif – in der Mythologie keine Kämpferin Thors Ehefrau, als Vegetations- und Familiengöttin (»Sif« ist auch das altnordische Wort für »Sippe« – keine Sorge, es gibt genügend kriegerische Göttinnen) und dem Umstand, dass im Mythos Odin ein Auge Mimir zum Pfand gab, um aus der Quelle der Weisheit trinken zu können, entsprechen die Götter ziemlich genau ihren mythologischen Gegenstücken. (Äußerlichkeiten, wie Sifs Haarfarbe oder Heimdalls Hautfarbe sind nebensächlich – tatsächlich wäre Sifs (buchstäblich) goldenes Haar sogar wichtiger, da es ihr mythologisches Attribut ist.)
Natürlich ist das ein Kompromiss, wie Thors kurzer Vollbart ein Mittelding zwischen dem glatt rasierten Comic-Thor und den rauschebärtigen Donnergott der Mythologie ist. Aber – es funktioniert. Besser als bei vielen angeblich so »authentischen« Sagenverfilmungen. (»Thor« als Comicverfilmung ist meiner Ansicht nach deutlich näher am »Geist« der nordischen Mythen als »Troja« es am Geist der griechischen Mythen war.)
Nebenbei: Dass man dem Publikum Namen wie Mjölnir, Heimdall (ohne »s«), Bifröst und Sif zumuten kann, zeigt eigentlich schon der anhaltende Erfolg der Möbelhauskette IKEA …
Heimdall korrgiert, der war mit beim Überfliegen durchgegangen. Danke für den Hinweis.