Wir trafen uns in der Videothek, um vier Filme zu leihen: Drei davon wollen wir uns ansehen, der vierte war die Reserve für den Fall, dass einer der drei anderen sich als Mist herausstellen würde. Der Anspruch an die Filme war, dass sie nicht langweilen sollten.
Nicht langweilen konnte natürlich auch Trash und Exploitation, extra miese Effekte, übertriebene Kostüme und wildes Overacting. Es war die Zeit der Camp-Movies. Es gab unendlich viele dieser freiwilligen oder unfreiwilligen »Kultfilme«, die ihren Status nicht erreicht haben, weil sie vom professionellen Standpunkt kritischer Cineasten aus eine besonders herausragende Qualität erreichten. Eher im Gegenteil.
Hoch im Kurs standen bei uns klare Parodien wie Angriff der Killertomaten, Top Secret, Spaceballs, House oder unfreiwillig komische Direct-to-Video Produktionen wie Mutant und Strange Invaders. Hin und wieder auch die unzähligen Actionfilme, in denen nicht mal Jean Claude van Damme mitspielen wollte. Auch beliebt bei Jugendlichen damals waren natürlich möglichst eklige Horrorfilme. Die haben uns aber weniger interessiert, wir waren Freunde von Filmen, die möglichst viele coole oder dumme Zitate abwarfen.
Egal, welches Genre am Ende präferiert wurde: Was all diese Videoabende gemeinsam hatten war, dass sich dabei ein paar Filme herauskristallisierten, die man immer wieder anschaute. Bei uns waren das Kentucky Fried Movie und Buckaroo Banzai. Die können wir auch nach fast 30 Jahren fast vollständig zitieren. Denn wir haben damals beide Filme sicher an die vierzig mal gesehen. Ich bin mir sicher, dass jedem Nerd in meinem Alter sofort (neben Star Wars) eine ganze Hand voll solcher Filme einfallen wird, die diesen Status bei ihr oder ihm erreicht haben: Diese gerne etwas sperrigen, vielleicht im ersten Moment lächerlichen oder verwirrenden Filme, die aber seltsamerweise besser werden, wenn man sie immer und immer wieder ansieht, weil man darin eine Metaebene entdeckt (oder sie entwickelt), die eine innige Verbindung schafft.
Warum erzähle ich das?
Deadpool ist genau so ein Film und ich kann mir gut vorstellen, dass wir ihn damals locker in unseren Videoabend-Kanon aufgenommen hätten. Es ist einer dieser Filme, von dem man überzeugt ist, dass jeder ihn gesehen haben sollte und es dann nur zwei Reaktionen gibt: Der begeisterte Ausruf »Was für ein geiler Scheiß!« oder ein genervtes »Wie kommst Du nur darauf, dass mir das gefällt?«.
Aus der Sicht eines neutralen Kinokritikers ist der Film … ganz okay. Er erzeugt keine Epiphanie, er wird nicht auf der Liste der Highlights des Jahres landen, nicht einmal ein »Kann man sich anschauen, macht man nichts falsch« ist wahrscheinlich. Sein Humor wird durchaus auch ankommen, aber viel zu bemüht erscheinen, wirklich mit jedem Satz eine Pointe zu setzen. Seine ständigen Wechsel in unterschiedliche Metaebenen vom völlig informationslosen Vorspann über die ständigen überironisierten Referenzen auf Pop‑, Nerd‑, Comic- und Filmkultur bis hin zum sechzehnfachen Bruch der vierten Wand (wie es Herr Pool in dem Moment auch konstatiert) könnte man auch als anstrengend empfinden und als einen Grund erkennen, warum der Film immer wieder an Spannung verliert.
Ein anderer Grund für die träge Spannungskurve wird in der schon schnell offensichtlichen Tatsache erkannt, dass Herr Pool quasi nicht zu töten ist. Oder selbst wenn, dass es ihm egal wäre. Wenn der Held derart abgeklärt rüberkommt, dass er eigentlich nicht mehr leiden oder Angst haben kann, und es auch sonst nichts gibt, was ihm noch irgendwas bedeutet, fällt die Identifikation mit ihm – zumindest im klassischen Sinne – schwer.
Aber es sind genau dieselben Dinge, die den Film zum absoluten Geekfest machen.
Er ist konsequent für »uns anderen«, uns Camp-Fans gemacht, die ständig an Stellen lachen und applaudieren werden, an denen normale Kinobesucher sich am Kopf kratzen, weil sie nicht wissen, was sie gerade verpasst haben. Er ist in erster Linie das erfüllte Versprechen an Deadpool-Fans, das Ryan Reynolds gegeben hat: »Keine Kompromisse. Ihr wollt Deadpool, wir wollen Deadpool, also machen wir Deadpool und ihr bekommt Deadpool.«
Hier mache ich allerdings eine kleine Einschränkung: Deadpool ist in den Comics ein durch und durch hedonistisch denkender Queer-Character. Der Superheld der LGBT, ein eindeutig und offen bisexueller, wenn nicht pansexueller Badass. So eindeutig und kompromisslos alle Antics und Eigenschaften der Comics und seiner Hauptfigur abgebildet werden, hier bleibt der Film vage und beschränkt sich auf Andeutungen. Das ist tatsächlich schade, denn der Film ist ja schon R‑Rated, da wäre das wirklich nicht mehr ins Gewicht gefallen. Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn wäre der Film in der Darstellung von krass übertriebener Gewalt, (straightem) kinky Sex, flexiblen Moralvorstellungen und all dem ausgeflippten Meta-Geek-Kram zurückhaltender, würden diese Andeutungen von Herrn Pools Queerness viel mehr auffallen und die homöopathisch auftretenden Hints auf eventuell nicht heteronormative Charaktere in anderen Superheldenfilm der letzten Jahre in ihrer verklemmten Keuschheit entlarven.
So liegt der Fokus aber auf der Action im hyperviolence-Style von Kick Ass und Kingsman, der Origin-Story in – von Herrn Pool ständig in unpassenden Situationen erzählten – Rückblenden, den durchgehend irrsinnig schnellen Dialogen (bei denen ich mir absolut nicht vorstellen kann, wie die unfallfrei in die deutsche Sprache übertragen werden können) in denen auch alle Nebenfiguren mindestens genau so smartassig sind wie Herr Pool selbst und den ständigen Meta-Kommentaren auf Pop‑, Geek- und Filmklischees.
Das alles macht den Film tatsächlich zum besten Marvel-Film, den Fox je zustande gebracht hat. Er ist eine in sich stimmige, irrsinnig detailverliebte und zum Bersten mit Fanservice vollgepackte Liebeserklärung, die seine Protagonisten bis hin zur kleinsten Nebenfiguren so sehr mag und durchfeiert, dass man zwar keinen Moment Angst um sie hat, aber weil man sie genauso gern hat, sogar froh darüber ist.
Er sprüht von der ersten bis zur letzten Sekunde nach dem Abspann(!) unendliche Liter von Blut, Regenbögen, Schweiß, Einhörnern und Herzchen ins Publikum. Wir haben am Ende alle lieb. Sei es der unglücklich verknallte indische Taxifahrer, Herrn Pools krasse Freundin Vanessa die ihm in Badassigkeit in nichts nachsteht (riesen Shoutout an Morena Baccarin, von der ich jetzt unbedingt mehr sehen will!) und die hoffentlich in der Fortsetzung als »Copycat« auch in den Superheldenstatus aufsteigen wird, die beiden X‑Men – der zum Knuddeln rechtschaffene Colossus und das göttllich genervte Gothmädel Negasonic Teenage Warhead – oh Gott, diese Szene an der Tür zum Xavier Institute!), der lakonische aber 100% loyale Weasel, die blinde Vermieterin Al, … selbst die Bösewichte bekommen ihre Momente, in denen sie cool und lässig sein dürfen.
Ich glaube, ich steigere mich gerade ein bisschen rein. Aber genau das ist, was ich damit meinte, als ich sagte es gibt diese Filme, die immer besser werden, je länger man über sie redet und je öfter man sie sich ansieht.
DEADPOOL
Besetzung: Ryan Reynolds, Morena Baccarin, Gina Carano, T.J. Miller, Ed Skrein, Stefan Kapicic, Rachel Sheen, Brianna Hildebrand, Stan Lee, Taylor Hickson u.a.
Regie: Tim Miller
Drehbuch: Rhett Reese, Paul Wernick
Produzenten: Simon Kinberg, Ryan Reynolds, Lauren Shuler Donner
Ausführende Produzenten: Stan Lee, Jonathon Komack Martin, Rhett Reese, Aditya Sood, Paul Wernick
Kamera: Ken Seng
Schnitt: Julian Clarke
Produktionsdesign: Sean Haworth
Musik: Junkie XL
116 Minuten
USA 2016
Promofotos Copyright 20th Century Fox
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