Kann Spuren von Spoilern enthalten.
Die Durststrecke war lang. Nachdem Marvel und Disney uns in den Jahren zuvor mit MCU-Filmen geradezu zugeballert hatten, gab es im Jahr 2024 genau einen: DEADPOOL & WOLVERINE. Und jetzt, sieben Monate später, endet die Durststrecke im Kino (im TV hatten wir die grandiose AGATHA ALL ALONG) mit CAPTAIN AMERICA: BRAVE NEW WORLD, in der Anthony Mackie die Rolle von Sam Wilson alias Captain America übernimmt, das ist so weit nichts neues seit Steve Rogers die Fackel, äh, Entschuldigung, das Schild weiter gegeben hat.
BRAVE NEW WORLD ist aber der erste »große« MCU-Film mit dem neuen Cap, denn in der Fernsehserie mit Bucky Barnes lautete sein Name noch Falcon.
Wir müssen an der Stelle allerdings mal über den Elefant reden, der im Raum steht – und der ist nicht ganz unerwartet rot und ziemlich wütend.
Man kann sicherlich geteilter Meinung darüber sein, ob es wirklich clever war, den Red Hulk schon früh in den Trailern zu zeigen. Auf der einen Seiten wusste jede Marvel-Freundin (Freunde sind mitgemeint) ohnehin, was mit Thaddeus »Thunderbolt« Ross passieren würde. Auf der anderen Seite unterscheidet sich das, was im Film passiert aber eben deutlich von den Geschichten in den Comics. Und gerade wegen der Hinführung und der storytechnischen Begründung der Red-Hulk-Werdung von Ross hätte man durchaus andere Karten spielen und offen lassen können, ob Ross sich in diesem Film oder in einem späteren in die rote Variante des stets ungehaltenen Hünen mit dem Zerdepper-Fetisch verwandeln würde.
Aufgrund dessen was in der Filmhandlung geschieht, hat man sich bei Marvel möglicherweise gedacht, dass der Red Hulk eigentlich gar nicht das zentrale Thema des Films ist und man den Charakter deswegen gleich von Anfang an offen legen kann. Ich halte das für falsch, denn auch wenn man schon geahnt hätte, was mit Ross passiert, wäre es dennoch immer noch im Rahmen der Handlung möglicherweise überraschend gewesen. Aber vielleicht fürchtete man auch bei Marvel, dass man die Red Hulk-Nummer ohnehin nicht hätte geheim halten können und hat das deswegen gleich von Anfang an rausgehauen. Ich halte diese Entscheidung für falsch, aber ich kann nachvollziehen, warum man das bei Marvel anders gesehen hat.
Als Superheldenfilm kommt BRAVE NEW WORLD der Zuschauerin insbesondere im Vergleich mit anderen, überbordenden MCU Filmen geradezu zurückgenommen und geerdet vor – und das trotz der Tatsache, dass der im Rahmen der Geschehnisse aus ETERNALS im indischen Ozean aufgetauchte Celestial eine gewisse Rolle spielt und … naja … Red Hulk.
Tatsächlich wirkt dieser Captain America-Film in weiten Teilen fast wie ein Polit- und Agententhriller in dem zufällig (Super-)Helden vorkommen. Oder im Fall von Sam Wilson eben nicht mal so super, denn tatsächlich verfügt er ja gar nicht über Superfähigkeiten, wie viele der anderen. Das wird auch im Film thematisiert, genauso wie bei seinem Falcon-Azubi.
Und auch wenn es natürlich für Cap und den neuen Falcon Szenen gibt, in denen sie ihre Kampf- und Flugkünste beweisen dürfen, ist das doch deutlich mehrere Level – oder vielleicht besser Powerlevel – unter dem, was man sonst so vom MCU gewöhnt ist.
Das führt aber auch dazu, dass man sich deutlich mehr auf Figuren als auf überbordendes Superhelden-Gekloppe und hyperexotische Schauwerte konzentrieren kann. Eine angenehme Abwechslung nach QUANTUMANIA, GUARDIANS 3, THE MARVELS und natürlich DEADPOOL & WOLVERINE, die in Sachen SFX, abgedrehte Szenarien und Schauwerte alles gegeben haben. BRAVE NEW WORLD wirkt im Vergleich dazu zurückgenommen und geradezu geerdet. Und zeigt erneut wie groß die inszenatorische Bandbreite in diesem Comic-Universum sein kann.
Was allerdings in keiner Weise heißen soll, dass der Film langweilig ist. Tatsächlich ist er über die gesamte Laufzeit überaus spannend und stringent inszeniert, so dass kaum Zeit zum Zurücklehnen bleibt, aber eben OHNE komplett drüber zu sein. Das ist mal eine sehr angenehme Abwechslung zum stets over-the-top-Popcornkino, das man sonst aus dem Hause Marvel kennt. Das Ganze erinnert – vermutlich nicht ganz zufällig – an die ebenfalls recht bodenständige Handlung der Streamingserie THE FALCON AND THE WINTER SOLDIER.
Bemerkenswert zudem, wenn auch angesichts des Charakters Ross nicht ganz überraschend, dass BRAVE NEW WORLD einen Bogen schlägt ganz zurück an den Anfang des MCU. Und das ist nicht, wie vielleicht manch eine denken mag, IRON MAN, sondern eigentlich der Film THE INCREDIBLE HULK aus dem Jahr 2008, in dem Edward Norton Bruce Banner spielte. Marvel Studios produzierte den damals zusammen mit Valhalla Motion Pictures und Universal Pictures, Regie führte Louis Leterrier nach einem Drehbuch von Zak Penn, es produzierten Avi Arad, Gale Anne Hurd und – natürlich – Kevin Feige (Edward Norton war mit diversen Produktionsentscheidungen und auch mit der Endfassung unzufrieden, was zu Streit führte, und dazu, dass er später durch Mark Ruffalo ersetzt wurde).
BRAVE NEW WORLD bezieht sich inhaltlich sehr direkt und sehr deutlich auf diesen frühen HULK-Film, nicht zuletzt dadurch, dass Figuren daraus in Erscheinung treten, dargestellt von denselben Schauspielenden wie damals (aber aus verschiedenen Gründen auch Neubesetzungen, an erster Stelle natürlich Ross), und referenziert dadurch das ganz frühe MCU, bevor es so hieß. Das passt natürlich erneut in die Bestrebungen Marvels, frühere Inkarnationen in Film und Fernsehen ins aktuelle MCU zu integrieren, die ihren bisherigen Höhepunkt in DEADPOOL & WOLVERINE fanden.
Den Film THE INCREDIBLE HULK kann man sich aufgrund der schwierigen Gemengelage in Sachen Rechte übrigens leider nicht auf Disney+ ansehen …
Anthony Mackie entledigt sich der Aufgabe der Darstellung des neuen Cap recht souverän, das beinhaltet selbstverständlich gewisse Zweifel daran, ob er der richtige für die Rolle ist, das war zu erwarten und das macht er gut, auch wenn das Drehbuch die Charakterentwicklung etwas weniger flach hätte halten können, aber dafür kann Mackie nichts. Etwas fragwürdig finde ich allerdings, dass das Drehbuch darauf herumreitet, dass er eben nur ein ganz normaler Mensch ohne Superkräfte ist (dafür mit einem Hightech-Anzug aus Wakanda), er im Verlauf des Films aber mehrfach dermaßen auf die Omme bekommt, dass man sich selbst im Kontext eines Superheldenfilms, bei dem man bestimmte völlig bekloppte Dinge einfach als gegeben hinnimmt, am Ende wundern muss, dass nur der Arm gebrochen ist. Aber gut, vermuten wir einfach wohlwollend, dass es der Anzug war.
Dass Harrison Ford in der Lage ist, eine solche vielschichtige Rolle wie den Ex-General und jetzigen Präsidenten Ross zu tragen, hätte man sich vorher denken können und selbstverständlich liefert er routiniert ab, wirkt dabei aber nie gelangweilt und ist selbstverständlich in der Lage den vielschichtig angelegten Charakter eben auch genauso vielschichtig darzustellen und es dabei zu bewerkstelligen, dass man der ambivalenten Figur trotz (oder gerade wegen) ihrer Schwächen Sympathien entgegenbringt. Ein Hulk mit Fords Physiognomie ist zudem natürlich mächtig sehenswert. Nur bei der Rückverwandlung hat das Drehbuch übertrieben, das ist in der Herleitung (abgesehen von Captain Americas ins-Gewissen-Rede) so dermaßen In Your Face, es hätte auch gereicht, im Verlauf der Handlung nur einmal auf den letztendlich auslösenden Faktor einzugehen. Ford ist gut genug, dass dieser Hinweis auch bei nur einmaliger Erwähnung ausreichend Schwere gehabt hätte, dass die Zuschauerin sich am Ende dran erinnern kann. Ihr werdet wissen was ich meine, wenn ihr den Film seht.
Und man muss eins ganz klar sagen: Es ist schon bemerkenswert, wenn einem Harrison Ford als leicht abgedrehter US-Präsident, der sich in den Red Hulk verwandelt und mit Kriegsschiffen um einen gigantischen Celestial herumschippert, heutzutage beinahe normaler vorkommt, als das, was tatsächlich in den USA derzeit abgeht … Blöderweise wird uns da kein Tony Stark retten …
Hervorzuheben ist meiner Meinung nach noch ganz deutlich noch Giancarlo Esposito, der wieder abböst, dass es eine helle Freude ist, es kann es halt. Schade irgendwie, dass seine Fähigkeiten an eine vergleichsweise kleine Rolle irgendwie verschwendet wirken. Der würde auch einen grandiosen Oberbösewicht abgeben. Aber vielleicht war man bei Marvel der Ansicht, dass man sein Gesicht dafür zu oft in Film und Fernsehen sieht und hat ihn deswegen in einer Nebenrolle besetzt. Auf der anderen Seite weiß man nie, was aus vermeintlichen Nebenrollen im MCU noch werden kann.
Technisch hatte der 3D-Film so seine Probleme. Es gab immer wieder Szenen, bei denen Bildebenen und Protagonisten, die eigentlich hätten scharf sein müssen, das nicht waren. Ich hatte erst den Eindruck, ich sehe vielleicht plötzlich schlecht, aber nachdem die nächste Szene nach dem Schnitt dann immer wieder scharf war, lag es nicht an mir und meiner Brille. Ich kann natürlich nicht sagen, ob der Grund die Projektion im Kino war, oder der Film, vielleicht kann mir dazu ja jemand mehr sagen, der BRAVE NEW WORLD ebenfalls in 3D gesehen hat und dann in der Lage ist, das zu bestätigen oder zu verneinen. Sollte es am Film selbst gelegen haben ist das bei so einer Produktion natürlich frech und vermutlich auf Crunch Time in der Postproduktion zurückzuführen. Nicht weniger frech wäre es allerdings seitens des Kinos, sollte es an der Projektion gelegen haben, denn das Ticket hat stolze 17 Euro gekostet.
Eigentlich ist das schade, denn tatsächlich waren die 3D-Effekte hier in vielen Schnitten sehenswerter als in anderen ähnlichen Produktionen und abgesehen von den Schärfeproblemen gab es wirklich ein paar wirklich schön in die Tiefe gestaffelte Szenen, ohne nervige oder übertriebene Popout-Effekte, wie man sie so bisher im MCU – und vor allem bei konvertierten 3D – noch nicht gesehen hat. Also künstlerisch sinnvoll eingesetzt, um den Eindruck der Szene zu untermalen, nicht auf dem künstlerischen Niveau von AVATAR, aber sehr ähnlich. Wenn nur nicht die Unschärfen gewesen wären …
Die Synchro war stellenweise wieder zum Weglaufen (ganz schlimm, ehrlich!) und die Musik ist mir ob ihrer Beliebigkeit nicht in Erinnerung geblieben, was euch zu denken geben sollte, denn ich bin Soundtrack-Fan.
Alles in allem ist das nicht der beste MCU-Film aller Zeiten, aber ein solider Action-Thriller mit Superhelden-Einlagen und mit Shira Haas als Ruth Bat-Seraph als einer der interessanteren neuen Figuren der letzten Zeit, ich gehe davon aus, dass wir die nochmal wiedersehen werden. Kurzweilig und sehenswert.
Und eins muss man ganz klar sagen: Nie war ein schwarzer Captain Amercia passender und notwendiger als heute, das zeigt alleine schon, dass die Deppen in den USA schon wieder konzertierte Aktionen fahren, um den Film abzuwerten. Es wird sehr spannend werden zu sehen, ob auch Marvel und Disney vor Trump und seinen Nazi-Kumpanen einknicken, oder ob sie ihrem vergleichsweise progressiven Kurs treu bleiben werden.
Die Post-Credits-Szene zeigt dann nochmal deutlich, dass es sich hier eben leider eigentlich nur um ein Zwischengeplänkel handelt.
Next Stops: THUNDERBOLTS* (Mai 25) und natürlich FANTASTIC FOUR: FIRST STEPS (JULI 25).
CAPTAIN AMERICA: BRAVE NEW WORLD
Besetzung: Anthony Mackie, Harrison Ford, Danny Ramirez, Shira Haas, Carl Lumbly, Tim Blake Nelson, Giancarlo Esposito, Xosha Roquemore, Jóhannes Haukur Jóhannesson, William Mark McCullough, Takehiro Hira, Harsh Nayyar, Rick Espaillatu.v.a.m.
Regie: Julius Onah
Drehbuch: Rob Edwards, Malcolm Spellman, Dalan Musson, Julius Onah, Peter Glanz
Story: Rob Edwards, Malcolm Spellman, Dalan Musson
Produzenten: Nate Moore, Kevin Feige
Ausführende Produzenten: Louis D’Esposito, Anthony Mackie, Charles Newirth
Kamera: Kramer Morgenthau
Schnitt: Madeleine Gavin, Matthew Schmidt
Musik: Laura Karpman
Produktionsdesign: Ramsey Avery
Casting: Sarah Halley Finn
118 Minuten
USA 2025
Promofotos Copyright Marvel Studios und Walt Disney Pictures