ALICE IN BORDERLAND – Netflix 10.12.2020
Der Titel kommt nicht von ungefähr. Das versteht sich. Aber durch die gesamte erste Staffel hindurch stellt sich immer die Frage, ob die Handlung verständlicher wäre, würde man Lewis Carrolls Nonsens-Romane um die junge Alice kennen. Oder ob sich der Unterhaltungswert steigern würde, könnte man Parallelen zwischen den beiden Werken klarer erkennen. Die Spielkarten und der Hutmacher sind Merkmale, die sogar Nichtbelesene ausmachen können. Vielleicht liegen die verbindenden Charakteristika viel tiefer in der Essenz der Geschichte. Wer will das beurteilen, der nicht mit dem Ursprung, dem kulturellen Stellenwert oder der intellektuellen Struktur von Mangas vertraut ist?
Arisu, Karube und Chota sind drei heranwachsende Nichtsnutze in Tokio. Ohne Ambitionen mogeln sie sich durch ihr Leben, sind sich selbst genug und rücksichtslos gegenüber anderen. Unvermittelt treten sie eines Tages auf die Straßen eines von Menschen leergefegten Tokios. Eine Erklärung findet sich nicht. Alle elektrischen Geräte sind tot. Dafür werden sie von einer unbekannten Macht gezwungen, diverse Spiele zu absolvieren, mit jeweils unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und variierenden Zielvorgaben.
Die Ausgangssituation ist natürlich verlockend, gerade für Filmfreaks und Horrorfans. Das alles klingt weniger nach dem Märchen mit dem weißen Hasen, als an eine grobe Mischung von Genre-Lieblingen wie CUBE, SAW und ESCAPE ROOM. Aber mit den Ähnlichkeiten in der Prämisse täuscht BORDERLAND über die wahre Substanz seiner eigenen Erzählung hinweg.
Zusammen in wechselnder Zusammenstellung mit anderen jungen Erwachsenen, spielen die Freunde stets um ihr Leben. Versagen wird mit Tod bestraft, aber auch die Weigerung zum Spielen. Folge um Folge können wir rätseln, was der Sinn hinter den Spielen sein soll. Der Zuschauer ist auf der Höhe der Protagonisten, es wird versucht Muster zu finden, Hinweise, oder nur ein einfaches »Warum?«.
Interessant sind im Wesentlichen die Spiele selbst und wie sie gelöst werden. Denn für seine Protagonisten kann Regisseur Shinsuke Sato nur sehr wenig Empathie erzeugen. In den ersten beiden Folgen sind die Charaktere sogar so kalt, ignorant und selbstbezogen gezeichnet, dass kaum Sympathie für sie aufkommt. Erst viel später vertiefen sich ihre emotionalen Züge, allerdings bleiben die Figuren weiterhin eindimensional.
Dafür ist jeder Episode vollgestopft mit Halbweisheiten und undifferenzierten Moralvorstellungen, altbekannten Wertmaßstäben und oberflächlichen Sinnfragen. Dass die Absicht dahinter eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Selbstfindung, sozialer Verantwortung und menschlicher Tugend sein soll, verschwindet hinter der Banalität der Dialoge, die selbst in der japanischen Sprachfassung kaum für voll genommen werden können.
Dennoch muss es an dieser Stelle erlaubt sein zu erwähnen, dass die deutsche Synchronfassung als eine Frechheit gegenüber den Talenten und Ansprüchen der Macher von ALICE IN BORDERLAND zu bezeichnen ist.Dennoch muss es an dieser Stelle erlaubt sein zu erwähnen, dass die deutsche Synchronfassung als eine Frechheit gegenüber den Talenten und Ansprüchen der Macher von ALICE IN BORDERLAND zu bezeichnen ist. Es ist dilettantisch und respektlos wie Sprecher und Synchronregie mit dem ihnen anvertrauten Material umgegangen sind. Es ist eine künstlerische Entscheidung der Macher, wie Dialoge geschrieben und ausgespielt werden. Und Dienstleister sollten achten, wer ihnen die Butter auf das Brot bringt.
Wie üblich wird das Budget auch dieser Netflix-Produktion nicht ans Motherboard gehängt. Es ist möglich zu erahnen, dass sich die Kosten gegenüber amerikanischen Produktionen eher bescheiden halten. Der Einsatz des Computers ist oftmals leicht zu durchschauen. Allerdings muss das nicht gegen die Serie sprechen. Schließlich befinden sich die Protagonisten im Äquivalent eines Computerspiels. Somit ist die ab und an sichtbare Künstlichkeit eigentlich schon wieder dem Charakter der Geschichte förderlich.
Alles in allem aber machen die Bilder des menschenleeren Tokio einen überzeugenden und epischen Eindruck. Diese Aufnahmen werden nicht ausgereizt oder überfordert eingesetzt, so wie sie aber eingebunden sind, vermitteln sie eine sehr beeindruckende Atmosphäre welche die Grundstimmung glaubhaft unterstreicht. Was einem allerdings als Beobachter bei der Ausarbeitung der Spannungsmomente und deren Timing verwehrt bleibt.
Der Aufbau der gezeigten Spiele erfolgt stets nach dem selben Muster. Was jedesmal in einem zu schlagenden Countdown kulminiert. Doch Zeit ist für Shinsuke Satos Inszenierung ein relativer Faktor, weil die einzuhaltende Zeit zugunsten der Dramaturgie immer wahllos in die Länge gezogen wird. Für eigentliche Spannungsmomente ist dies schlichtweg nicht spannend. Bereits beim dritten gezeigten Spiel wirkt es ermüdend. Denn dem Zuschauer ist längst geläufig, dass das Rätsel gelöst wird, wie es gelöst wird und wer es lösen wird.
Am Staffelende zieht man als Beobachter beruhigt sein Resümee, dass eine Vorkenntnis über den Roman ALICE IM WUNDERLAND irrelevant gewesen wäre. Höchstens ganz böse Zungen würden behaupten, eine Verbindung ergäbe sich daraus, dass der Ausflug ins BORDERLAND der gleiche verrückte Nonsens wäre wie die Abenteuer von Carrolls Alice.
Dass dergleichen dem Regisseur Shinsuke Sato wirklich vorschwebte, ist kaum anzunehmen. Wenngleich die stringente Ernsthaftigkeit selbst in absurden Szenen, und der überzogene Pathos in der Dramaturgie darauf schließen lassen könnten. Aber das unterscheidet auch das asiatische Kino generell vom westlich orientierten Mainstream. Und es führt zurück zu den Mangas, jenem japanischen Gegenstück zu den westlichen Comics. 18 Teile hat Haro Aso unter dem Titel ALICE IN BORDERLAND veröffentlicht.
Bekanntlich haben Mangas, oder auch Comics, eine andere Erzähldynamik als Film- und Fernsehproduktionen. So liegt es bei den Kennern zu bescheinigen, ob diese Serien-Adaption der Vorlage und dem Stil ihres Mediums gerecht wird. Oder ob es doch nur Nonsens ist.
ALICE IN BORDERLAND
Darsteller: Kento Yamazaki, Tao Tsuchiya, Keita Machida, Y?ki Morinaga, Nobuaki Kaneko u.a.
Regie: Shinsuke Sato
Drehbuch: Yasuko Kuramitsu, Shinsuke Sato, Yoshiki Watabe
nach den Mangas von Haro Aso
Kamera: Taro Kawazu
Bildschnitt: Tsuyoshi Imai, Shôkichi Kaneda
Musik: Yutaka Yamada
Produktionsdesign: Iwao Saitô
8 Episoden, jeweils ca. 50 Minuten
Japan 2020
Bildrechte: NETFLIX