Wenn der Snowpiercer in langen Schleifen die diversen Kontinente durchstreift und den Globus umrundete, dann hat er 438.000 Meilen hinter sich gebracht und exakt ein Jahr dafür gebraucht. Seit achtzehn Jahren nun schon, achtzehn mal um die vereiste, tote Welt. Außerhalb des gewaltigen Zuges ist ein Überleben unmöglich, würde er anhalten, müssten alle Insassen sofort erfrieren. Dennoch ist er ein Wunder der Technik, und die letzte Bastion menschlichen Lebens. Die hinteren Waggons sind vollgepfercht mit Elend, verwahrlosten Kindern, nur das notwendigste an Kleidung, keine Duschen, und lediglich Protein-Blocks als Nahrung. Dass es denen im vorderen Bereich des Zuges besser geht, wissen die hinten. Der charismatische Curtis ist einer von ihnen, der sein Recht auf bessere Lebensbedingungen einfordern will. Revolution keimt auf, im tosenden Fahrwind des Zuges und dem endlosen Geratter auf den Schienen. Doch Curtis will auch kein Anführer sein, er fühlt sich nicht danach, und lehnt es ab. Durch Zufall ist es aber ausgerechnet Curtis, der feststellt, dass die Wachen überhaupt keine Munition mehr in den Gewehren führen. Wahrscheinlich aufgebraucht beim letzten, niedergeschlagenen Aufstand der hinteren Abteile. Mit ausgefuchsten Ideen beginnt der Sturm nach vorne, denn wer die Maschine beherrscht, der beherrscht das Leben im Zug.
Die Grenzen für apokalyptische Welten sind weit gesteckt. Hingegen, eine nachvollziehbare, glaubwürdige Dystopie zu erschaffen ist schon viel schwerer. Viele dieser düsteren Zukunftsaussichten errichten eine in sich geschlossene Welt. Ein eigener Kosmos, der stimmig sein muss, und in dem wechselseitige Vorkommnisse auch logisch miteinander korrespondieren. SNOWPIERCER umgeht die Auseinandersetzung mit seinen Schwächen dieser geschlossenen Welt sehr geschickt mit vagen Andeutungen. Ist am Anfang noch vollkommen unklar, wie der Zug überhaupt angetrieben wird, gibt es am Ende ebenso vage Bilder, welche eine vom Zuschauer selbst zusammen gereimte Erklärung sein könnten. Selbst als bei einem gewissen Punkt im Film plötzlich wieder mit Munition bestückte Waffen zum Einsatz kommen, könnte eine vielfach interpretierbare Ansprache des Zugführers eine Lösung anbieten. Könnte. SNOWPIERCER ist in dieser Beziehung sehr geschickt, wenngleich nicht sehr befriedigend, weil es nicht wirklich stimmig wirkt. So wie die atemberaubenden 50 Meilen in der Stunde, mit der sich der Zug durch die Eislandschaft frisst. Bei 438.000 Meilen im Jahr und 8750 Stunden, die ein Jahr hat, ein einfache Rechnung. Die wenigen Außenaufnahmen vermitteln unentwegt eine Geschwindigkeit von mindestens 150 MpH. Und es gibt Szenen, die eine weit höhere Geschwindigkeit als 50 MpH nicht nur plausibel, sondern dringlich erforderlich machen.
Nichtsdestotrotz ist SNOWPIERCER spannendes Action-Kino mit einer außergewöhnlichen Prämisse. Die Weltgemeinschaft entschließt sich, endlich etwas gegen die Klimaerwärmung zu tun. Auch hier wird der Film nicht wirklich konkret, was CW‑7 eigentlich ist, doch es wirkt. Weit stärker als erwartet, die Erde verwandelt sich in einen unwirklichen Eisplaneten, auf dem jedes Leben unmöglich ist. Nur der Erfinder und Ingenieur Wilford hat mit seinem irrwitzigen Plan, eine Eisenbahnstrecke rund um den Globus zu installieren, der Katastrophe vorgebaut. Die letzte Zuflucht des Rests der Menschheit. Wenn der Film beginnt, ist der Zug bereits 18 Jahre unterwegs, die Stimmung an Bord entsprechend. Was gleich zu Anfang auffällt ist, dank hervorragenden Set-Designs und raffinierten Computer-Grafiken, die perfekte Illusion eines fahrenden Zuges, bei dem man mehrere Waggons in die Tiefe blicken kann. Ab der zweiten Hälfte verliert sich dieser Effekt leider immer weiter.
Chris Evans hat als ungewollter Anführer keine große Ansprüche zu erfüllen, aber er wird seinem Charakter mit verschleppter Wut durchaus gerecht. Viel auffallender ist da natürlich Tilda Swinton, die sich auch hier wie bei GRAND BUDAPEST HOTEL, hinter einer einzigartigen Maske versteckt. Swintons Auftritte sind unbestrittene Glanzlichter dieses Films. Der Süd-Koreaner Joon-ho Bong inszenierte seinen Film mit straffen Tempo, gibt aber auch ausreichend Zeit für die vielen einzigartigen Expositionen, die der Zug im Laufe des Klassenkampfes preisgibt. Der Sushi-Waggon, das Klassenzimmer, die Discothek. Dazu gibt es immer wieder Action-Einlagen, in der sich die Soldaten der Élite-Passagiere grausame Kämpfe mit den Unterprivilegierten liefern. Diese Kämpfe sind tadellos eingeführt und optisch umgesetzt. In der Axt-Schlacht allerdings schlagen die Protagonisten immer wieder allzu offensichtlich am Gegner vorbei, was die Tonspur jedoch als saftige Treffer verkauft. Das ist deswegen so schade, weil es im Grunde eine sehr intensive und einnehmende Sequenz ruiniert.
Könnte man die erste Hälfte von SNOWPIERCER als uramerikanisches Zukunftsspektakel mit dunkler Stimmungen bezeichnen, schwenkt Joon-ho Bong schließlich zu einem asiatischen Ton über. Die Stimmung wird greller, etwas absurder, und aufkeimender Humor schwankt zwischen Slapstick und Zynismus. Diese Art von Inszenierung muss man mögen und er könnte gerade Freunde des gepflegten Mainstreams leicht verschrecken. Doch alles in allem bleibt SNOWPIERCER ein mit viel Spannung und Überraschungen inszeniertes Endzeit-Szenario. Und dass er derart gut seine Schwächen für eine glaubhafte Dystopie überspielen kann, muss man ihm dazu hoch anrechnen. Ähnlich gelagerte Filme, mit finsteren Hintergründen einer ganz neuen Weltordnung, lassen sich da sehr viel einfacher demontieren. Allerdings muss man sagen, dass auch bei SNOWPIERCER immer der leicht faule Geschmack mitspielt, diese Welt sei nicht wirklich bis zur letzten Konsequenz durchdacht. 126 spannende Minuten bleiben es allemal, sogar mit dieser philosophischen Einlage, die noch einmal versucht, die Grenzen zwischen Gut und Böse aufzuheben. Denn tatsächlich hat jeder an Bord seine Bestimmung. Und wie es scheint, erfolgt auf jede Aktion eine bereits im voraus kalkulierte Reaktion. SNOWPIERCER spielt gewiss nicht in der obersten Liga esoterischer Zukunftsspiele, aber er beweist, dass hinter seiner Geschichte eine weit tiefere Bedeutung beabsichtigt war. Und das ist doch gar nicht einmal so schlecht für einen Film, der vordergründig nur Spannungskino zu sein scheint.
SNOWPIERCER
Darsteller: Chris Evans, Jamie Bell, Tilda Swinton, Luke Pasqualino, Octavia Spencer, Kang-ho Song, Ah-sung Ko, Ed Harris, John Hurt u.a.
Regie: Joon-ho Bong
Drehbuch: Joon-ho Bong, Kelly Masterson
Kamera: Kyung-pyo Hong
Bildschnitt: Steve M. Choe
Musik: Marco Beltrami
Produktionsdesign: Ondrej Nekvasil
Tschechien-Frankreich-Korea-USA / 2013
zirka 126 Minuten
Promofotos Copyright MFA Filmdistribution / The Weinstein Company
Sag mal, das mit dem »wir fahren im Zug rum, um zu überleben« klingt ziemlich hanebüchen als Welthintergrund. Wird das halbwegs nachvollziehbar erklärt, oder werfen die das dem Zuschauer einfach so vor und der muss damit leben?
Dann habe ich gelesen, dass es sich hierbei um eine massiv umgeschnittene Version für den US-Markt handelt und die südkoreanische Urfassung anders und länger ist (sich zum Beispiel mehr auf Charaktere konzentriert). Kannst Du dazu was sagen?
Danke! :)
Auf dem Filmfest lief auf alle Fälle die nicht geschnittene Fassung. Der dicke Weinstein wollte wohl 20 Minuten kürzen, um den Film mehr auf die Action zu konzentrieren. Da der Film aber schon vorher ungeschnitten auf Festivals gelaufen war, liefen die Fans natürlich sofort Sturm. Die Weinsteins gaben dem Druck nach. Zum Glück. So verrückt der Film auch sein mag, seine Länge ist nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig.
Der Zug könnte ein Perpetuum Mobile sein, so richtig klar wird das nicht. Was ich auch wieder gut finde, weil man dann zu viel erklären müsste, was dann doch nur in Unsinn ausartet. Ob es nachvollziehbar erklärt wird, warum »wir mit dem Zug rum fahren, um zu überleben«, ist wirklich schwer zu sagen. Zumindest habe ich für mich nicht feststellen müssen, dass es hanebüchener Unfug ist, sondern eine gewisse Glaubwürdigkeit hat.
SPOILER !
Gegen Ende des Films taucht dann der Erfinder des Zuges auf und quasselt den Hauptdarsteller mit allerlei metaphysischen Phrasen zu. Und an dieser Stelle wird alles, was man vorher als Nonsens abtun könnte, in einen vernünftigen Konsens gebracht.
Deine Fragen sind spannend, deswegen würde mich eine Betrachtung von deiner Seite aus wirklich interessieren. Denn ich behaupte einfach mal: Ansehen, denn die Mischung amerikanischer und asiatischer Erzählformen ist grundlegend empfehlenswert.
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