Deutschlandstart 08.07.2021 im Kino und auf Disney+
Kann Spuren von Spoilern enthalten. Aber nix Schlimmes. Ehrlich.
Über ein Jahrzehnt hat Marvel uns mit Spielfilmen aus dem Marvel Cinematic Universe (Personen mit sprachlichen Platzproblemen nennen es das »MCU«) versorgt und eine cineastische Großtat geschaffen: ein Haufen Filme um verschiedene Charaktere, die alle miteinander verknüpft sind und am Ende in eine epische Duologie münden (Comicfans sind weniger überrascht, denn genau das tut Marvel in den Heften seit Jahrzehnten).
Die meisten der männlichen Helden bekamen einen Origin-Film, nur die einzige Frau, die von Anfang an Mitglied der Avengers war, bekam den nicht. Und das war ein Versäumnis.
Mit BLACK WIDOW möchte Marvel das nachholen. Und das ist auch gelungen, man hat nur die ganze Zeit den Eindruck: Es kommt viel zu spät – und ich meine damit nicht die über einjährige Verzögerung durch die verdammte Pandemie.
Über die Figur Natascha Romanoff wusste man theoretisch eine Menge, denn zum einen fielen immer wieder mal Hinweise und zum anderen kennt man sie eben aus den Comics. Aber ein zentraler Faktor am MCU ist eben auch, dass es sich von dem, was Fans aus den Comics kennen, unterscheidet. Deswegen konnte man eben nicht annehmen, alles über Black Widow bereits aus den Heften und Graphic Novels zu wissen. Das war im Zusammenhang mit der MCU-Heldin bestenfalls Halbwissen.
Der Film um BLACK WIDOW holt das nach, was längst hätte passieren müssen: man erfährt nicht nur deutlich mehr über den Hintergrund der Agentin, sie bekommt zudem deutlich mehr Profil und Farbe.
Und das ist auch durchaus gelungen. Marvel schafft es immer wieder, seinem Kino-Universum neue Facetten zu geben, damit es nicht langweilig wird. Und wie sich die bisherigen Filme – und inzwischen auch Serien – immer wieder deutlich in Stil und Setting unterscheiden, so ist auch BLACK WIDOW ein untypischer MCU-Film. Nicht untypisch in seinen atemberaubenden Actionsequenzen und auch nicht untypisch in seinem Setting. Aber diesmal bekommt man es mit einem eher düsteren Thriller um unfreiwillige Superagentinnen zu tun, der sich nicht nur an wenigen Stellen deutlich in Richtung von Vorbildern wie James Bond oder Jason Bourne verneigt. Und der Bösewicht (dessen Namen ich an dieser Stelle zum Zwecke der Vermeidung von Spoilern mal nicht nenne) könnte so dermaßen direkt aus einem Bond-Film entsprungen sein, dass man es für ein Zitat halten möchte. Sowohl was den Hintergrund, als auch die Darstellung des Charakters und am Ende auch sein Hauptquartier angeht. Der Unterschied ist zum einen, dass Bond-Filme trotz der erfolgreichen Modernisierung irgendwie mit ihrem Macho-Hauptdarsteller wie aus der Zeit gefallen wirken und zum anderen hat man es im Marvel-Film beinahe ausschließlich mit Agentinnen zu tun – die die klassische Doppelnull-Nummer alt aussehen lassen. Und dann ist der männliche Held auch noch eine Witzfigur. Ich bin sicher, dass das auch als Statement gedacht war, um wiedergutzumachen, wie man Natasha Romanoff in vergangenen Filmen mitgespielt hatte.
Trotz der Tatsache, dass BLACK WIDOW beinahe durchgängig für einen Marvel-Film sehr düster ist, muss man den MCU-typischen Humor nicht vermissen. Es wird ausgiebig auf Romanoffs Dreipunktlandungen herumgeritten (vielleicht sogar einen Tick zuviel) und der völlig abgehalfterte russische Supersoldat und bolschewikischer Ex-Superheld Red Guardian (grandios dargestellt von einem David Harbour, der sichtlich Spaß an der Rolle hatte – und wenn er sich in seinen alten Anzug zwängt bleibt kein Auge trocken) ist eine Freude für sich. Auch ansonsten sind diverse kleine Gags in den Film eingebaut, die die Dramatik immer wieder ein wenig einbremsen, was auch dringend nötig ist.
Die geneigte Kinobesucherin muss selbstverständlich nicht auf überbordende Spezialeffekte und Actionsequenzen verzichten, wie man sie in einem MCU-Film beinahe zwingend erwartet. Die Abschlusssequenz ist geradezu atemberaubend inszeniert, lässt der Zuschauerin allerdings durch geschickt eingebaute Pausenszenen immer wieder Zeit zum Atmen. Aber auch vor dem Showdown wird man immer wieder durch Actionsequenzen unterhalten, die sich aber auch mit einer erstaunlichen Menge deutlich ruhigerer Szenen abwechseln, in denen ausführlich auf die Figuren, ihre Geschichte und ihre erlittenen Traumata eingegangen wird. Zudem beleuchten die Macher immer wieder, was eigentlich »Familie« bedeutet. Und nebenbei werden auch gleich noch ein paar neue Protagonisten fürs MCU eingeführt, darunter die neue BLACK WIDOW, der Taskmaster und gleich haufenweise neue … ähem … ich breche den Satz an dieser Stelle ab.
Dabei bleibt Kameramann Gabriel Beristain an etlichen Stellen erstaunlich nah an der Hauptfigur und erzeugt damit Nähe. Überhaupt schaffen Kamera und Schnitt es, die Actionsequenzen äußerst strukturiert und stringent abzubilden, so dass die Zuschauerin nicht überfordert wird und man trotz der quirligen und stellenweise äußerst dreidimensionalen Action im Prinzip ständig weiß, wo man gerade ist.
Perfekt ist der Film nicht, an wenigen Stellen hätte man sich gewünscht, dass nochmal eine weitere Person einen Blick auf das Drehbuch wirft, aber letztendlich ist das zum einen Gemecker auf hohem Niveau und zum anderen gehe ich davon aus, dass auch die Übersetzung Grund für Abstriche ist, die nach meinem Eindruck stellenweise leider wieder mal grottig daher kommt.
BLACK WIDOW ist eine lange überfällige Verneigung in Richtung der Figur, mit der man in der Reihe der MCU-Filme mehrfach ziemlich fragwürdig umgegangen ist. Vorwerfen muss man Marvel, dass dieser Film definitiv vor INFINITY WAR und ENDGAME hätte kommen müssen (er handelt zum großen Teil und abgesehen von Rückblenden direkt nach CIVIL WAR – und dort hätte er auch im Kino hingehört).
Wie immer gilt: Wer vor dem Ende des Abspanns das Lichtspielhaus verlässt ist selbst schuld – und es dürfte eine Première sein, dass ein Kinofilm in einer Post-Credits-Szene Werbung für eine Fernsehserie macht.
Im Großen und Ganzen halte ich BLACK WIDOW für einen überaus gelungenen und lange überfälligen MCU-Film mit kleineren Abstrichen im Detail mit überlebensgroßen Heldinnen und ebensolchen Bösewichten – auch wenn es ein paar Nummern kleiner ist, als bei Thanos, tut das der Dramatik keinen Abbruch. Man sollte ihn sich aufgrund der Schauwerte aber unbedingt im Kino ansehen und nicht etwa auf Disney+, wo er zeitgleich als VIP-Programm angeboten wird, denn auf einem kleinen Schirm kann der Film nicht wirken, auch nicht wenn der Fernseher 50 Zoll hat. BLACK WIDOW will im Kino goutiert werden.
Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass man die restlichen MCU-Filme gesehen haben sollte, weil einem sonst etliche Querverweise und auch große Teile der Handlung rätselhaft bleiben müssen.
Zum Abschluss: Empfehlung. Es ist längst nicht der beste MCU-Film, aber dennoch ein sehr guter (was man allein schon durch die äußerst kontroversen Besprechungen erkennen kann, manche lieben ihn, manche hassen ihn). Leider muss man ehrlich sagen: Zu spät, viel zu spät!
BLACK WIDOW
Darsteller: Scarlett Johansson, Florence Pugh, Rachel Weisz, David Harbour, Ray Winstone, Ever Anderson, Violet McGraw, O‑T Fagbenle, William Hurt, Olga Kurylenko, Ryan Kiera Armstrong und andere
Regie: Cate Shortland
Drehbuch: Eric Pearson nach einer Story von Jac Schaeffer und Ned Benson.
Kamera: Gabriel Beristain
Bildschnitt: Leigh Folsom Boyd und Matthew Schmidt
Musik: Lorne Balfe
Produktionsdesign: Charles Wood
133 Minuten
USA 2021
Promofotos Copyright Marvel Studios und Walt Disney Pictures