WEDNESDAY – Netflix seit 23.11.2022
Wegen ungebührlichen Verhaltens muss Wednesday Addams ihre Schule verlassen. Sie selbst kann das nicht nachvollziehen, der Junge ist ja nicht gestorben sondern hat nur einen Hoden verloren. Mittlerweile ist das zynische Mädchen zirka 15 Jahre und sehr hübsch, gerade wegen ihrer Leichenblässe und den pechschwarzen Zöpfen. Zöpfe, die in dieser Serie nicht in Henkersschlingen enden, vielleicht weil sie sich da herausgewachsen fühlt. Dafür hat der Grad an staubtrockener Morbidität zugenommen. Die Entwicklung von Wednesday ist kontinuierlich mit den Verfilmungen vorangeschritten, manchmal sogar sprunghaft. In der 1964 gestarteten Serie war sie noch die jüngere Schwester von Pugsley, in den zwei legendären Barry Sonnenfeld Verfilmungen war es irgendwie unklar und nun in ihrer eigenen Serie ist Wednesday die Ältere.
»Niemand quält meinen Bruder, außer mir«.
Gleich vorweg: Puristen werden WEDNESDAY nicht mögen. Es ist ein wunderbare Serie, äußerst unterhaltsam, und wirklich originell. Aber die Puristen werden sie nicht mögen. Was auf der einen Seite als engstirnig, voreingenommen und zu traditionell bezeichnet werden kann. Auf der anderen Seite aber muss es als nachvollziehbar anerkannt werden. Die von den Schreibpartnern Alfred Gough und Miles Millar entworfene Serie eröffnet viele Facetten und zu viele Einblicke in das eigentlich große Mysterium Wednesday Addams. Was die einen faszinierend finden, könnten andere als Entmystifizierung anprangern.
»Für mich sind soziale Medien ein die Seele aussaugender Abgrund bedeutungsloser Bekenntnisse.«
Jenna Ortega präsentiert eine respektable Leistung als neueste Inkarnation des kleinen Galgenstricks. Sie hat ihre eigene Art gefunden, auch wenn der Charakter eigentlich fest vorgegeben ist. Aber sie schafft auf einem schmalen Grad die kindliche Zynikerin zur sarkastischen Erwachsenen werden zu lassen. Die Kamera ist allerdings dabei auch Ortegas bester Freund und zeigt Wednesday stets mit gesenktem Kopf wo nur die Augen verächtlich nach oben zum Gegenüber gerichtet sind. Mit raffinierten Kamerawinkeln wirkt Ortega auch immer wesentlich kleiner als ihre Mitspieler, was im Zusammenhang mit ihrem selbstbewussten Auftreten zusätzliche Verunsicherung schafft.
»Fürs Protokoll, ich glaube nicht, dass ich besser bin als alle anderen. Nur dass ich besser bin als du.«
WEDNESDAY ist aber keine Leistungsschau an bitterbösen Witz und makabren Szenen. Es ist eine Mischung, die nur wenigen Serien und Filmen in dieser Weise gelingt. Coming-of-age Beziehungsdrama, Cartoon-Strip-Episoden, gepflegter Grusel und ein phantastischer Wer-war-es?-Krimi. Besonders der Krimi-Plot überrascht, weil er nicht Gimmick ist, sondern als wirkliches Mystery-Rätsel in den Vordergrund gestellt wird. Aber die Nebenhandlungen die für sich allein schon interessante Geschichten erzählen, werden Teil des großen Ganzen. Die fünf Drehbuchautoren halten über acht Episoden alles stimmig und bringen es in konsistente Form.
»Aus irgendeinem Grund den ich nicht ergründen oder nachgeben kann, scheinst du mich zu mögen.«
Wednesday wird gegen ihren Willen in die Nevermore Academy versetzt. Eine Schule für »Ausgestoßene«, wie Vampire, Werwölfe, Sirenen oder Gorgonen. Ihre wohlbekannten Eltern waren dereinst selbst Schüler der Nevermore Academy. Natürlich eckt das stets in schwarz gekleidete Mädchen mit ihrer unverblümten und morbiden Art bei jedem an. Außer bei ihrer stets positive gelaunten Zimmergenossin Enid, eine Stofftiere sammelte Werwölfin mit den Hang zur Farben und rosa Kleidung. Unvermittelt sorgt eine unerklärliche Mordserie in der nahe gelegenen Kleinstadt Jericho für Aufregung. Scheinbar hat das nicht nur mit Wednesdays Familiengeschichte zu tun, sondern auch mit einem Geheimbund, dem Sheriff und einem Erlebnismuseum eines Pilgerdorfes.
»Du kannst die Toten nicht auferwecken. Glaube mir, ich habe es versucht.«
Das Produktionsdesign unter der Führung von Mark Scruton ist leidlich aufregend, für Serienverhältnisse aber durchaus überzeugend. Für die Innenaufnahmen von Nevermore beschränkt man sich auf sehr wenige, immer wieder eingesetzte Sets, die funktional sind, sich aber nicht durch Originalität auszeichnen. Mit Ausnahme des sakral anmutenden Zimmers von Enid und Wednesday. Die raffinierte, effektive ausgeklügelte Kameraarbeit der Herren David Lanzenberg und Stephan Pehrsson machen die Settings dennoch zum Erlebnis. Fliegende Kameras und elegische Fahrten sind exakt auf die Inhalte der Szenen ausgelegt, genau wie die stimmigen Einstellungsgrößen für die Darsteller um der angedachten Stimmung unterstützenden Ausdruck zu verleihen.
»Ich begrabe keine Kriegsbeile. Ich schärfe sie.«
Ein weitgehend unbekanntes Ensemble bringt eine angenehme Atmosphäre in die von Horror-Elementen angestoßene Mörderhatz. Aufstrebende Talente mit viel Charisma, allen voran Percy Hynes White als undurchsichtiger Verehrer Xavier Thorpe, und Hunter Doohan als Bedienung aus dem lokalen Café, Sohn des Sheriffs und ebenfalls an Wednesdays interessiert. Die den Titelcharakter umgebenden Figuren sind allesamt nach Blaupausen entworfen, was allerdings ein großer Vorteil ist. Die Inszenierung kann so jeden als Verdächtigen nutzen und wunderbar mit Erwartungshaltung oder Handlungsklischees spielen. Wer immer sich dem Verdachtsmoment entzieht, kann Minuten später schon wieder potentieller Mörder sein.
»Ich könnte Pfadfinderinnen zum Frühstück essen. Eigentlich habe ich einen Onkel, der für so etwas ins Gefängnis kam.«
Es mag inszenatorische Vorteile gehabt haben, dass Tim Burton in den ersten Folgen auch die Regie übernommen hat. Aber in ihren Qualitäten an ausgezeichnetem Timing und inhaltlichem Fokus lassen sich kaum Unterschiede in den einzelnen Folgen ausmachen. Von Episode zu Episode baut sich die Geschichte immer weiter auf, verdichtet sich mit einem steigenden Spannungsverlauf, und lässt die Figuren eine den Zuschauer bindende Entwicklung erfahren. Aber keine der Handlungselemente werden für sich stehend erzählt, alles greift plausibel und nachvollziehbar, meistens auch mit überraschenden Effekt, ineinander.
»Ich war nicht immer gegen Geburtstage. Jeder erinnert mich daran, dass ich der kalten Umarmung des Todes ein Jahr näher bin.«
Es gibt Wiedersehen mit vielen beliebten und bekannten Figuren, deren Auftritte viel mehr der Erwartungshaltung geschuldet sind, als dem reinen Schauwert. Aber selbst hier fügen sich alle der eigentlichen Erzählung. Ist Raul Julia als Gomez noch immer ungeschlagen, muss man zugestehen, dass Luis Guzmán von allen bisherigen Gomez-Darstellern den Cartoons von Charles Addams am ähnlichsten ist. Was aber tatsächlich nicht funktioniert, ist die Besetzung von Christina Ricci, deren eigene Darstellung der Wednesday noch immer viel zu präsent ist, als dass es ignoriert werden könnte, was letztendlich immer wieder irritiert und der Handlung nicht förderlich ist.
»Ich brauche weder deine Hilfe noch dein Mitleid. Ich habe bereits eine Mutter und einen Therapeuten.
Das ist genug Folter, sogar für mich.«
Wenn Vergleiche zu den Schulszenarien eines Harry Potters angestellt werden, dann muss sich WEDNESDAY das gefallen lassen. Allerdings wäre das kein negativer Kritikpunkt. Genauso könnte sich auch Michael Lehmans HEATHERS oder X‑MEN: FIRST CLASS in den Mix werfen. Es wären allerdings Vergleiche, die lediglich sehr gute Erinnerungen für einen erneutes Ansehen wären. WEDNESDAY steht in seiner ganzen Art für sich. Atmosphärisch ist lediglich der Hauch von Barry Sonnenfelds zwei ADDAMS FAMILY Filmen allgegenwärtig, was WEDNESDAY nur noch aufwertet.
»Ich weiß, dass ich stur, zielstrebig und besessen bin.
Aber das sind alles Charakterzüge großer Schriftsteller … und Serienmörder.«
WEDNESDAY
Darsteller:
Jenna Ortega: Wednesday
Emma Myers: Enids Sinclair
Gwendoline Christie: Rektorin Larissa Weems
Hunter Doohan: Tyler Galpin
Percy Hynes White: Xavier Thorpe
Jamie McShane: Sheriff Donovan Galpin
Riki Lindhome: Dr. Valerie Kinbott
Joy Sunday: Bianca Barclay
Georgie Farmer: Ajax Petropolus
Christina Ricci: Marilyn Thornhill
sowie
Catherine Zeta-Jones: Morticia Addams
Luis Guzmán: Gomez Addams
Isaac Ordoney: Pugsley
u.a.
Regie: Tim Burton – James Marshall – Gandja Monteiro
Drehbuch: Alfred Gough, Miles Millar, Kayla Alpert, April Blair, Matt Lambert
Kamera: David Lanzenberg, Stephan Pehrsson
Bildschnitt: Jay Prychidny, Ana Yavari, Paul G. Day
Musik: Chris Bacon, Danny Elfman
Produktionsdesign: Mark Scruton
USA 2022
8 Episoden – 406 Minuten
Wednesday’s Child Is Full of Woe – 60 min.
Regie: Tim Burton – Drehbuch: Alfred Gough, Miles Millar
Woe Is the Loneliest Number – 48 min.
Regie: Tim Burton – Drehbuch: Alfred Gough, Miles Millar
Friend or Woe – 48 min.
Regie: Tim Burton – Drehbuch: Kayla Alpert
Woe What a Night – 49 min.
Regie: Tim Burton – Drehbuch: Kayla Alpert
You Reap What You Woe – 52 min.
Regie: Gandja Monteiro – Drehbuch: April Blair
Quid Pro Woe – 50 min.
Regie: Gandja Monteiro – Drehbuch: April Blair
If You Don’t Woe Me by Now – 47 min.
Regie: James Marshall – Drehbuch: Alfred Gough, Miles Millar, Matt Lambert
A Murder of Woes – 52 min.
Regie: James Marshall – Drehbuch: Alfred Gough, Miles Millar
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