Amyotrophe Lateralsklerose ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, soweit die Wikipedia. Der Baseballspieler Lou Gehrig war eines der bekanntesten Opfer dieser Krankheit, weshalb ALS in Amerika auch einfach als Lou-Gehrig-Syndrom benannt ist. Auf die Welt gesehen hingegen ist ein anderer Mann nicht nur das Symbol für ALS, sondern auch das menschliche Zeichen, für die unbändige Kraft überhaupt mit Krankheiten umzugehen. Bei Stephen Hawking wurde 1963 Amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert, mit einer Lebenserwartung von zwei Jahren. Das wäre vor fünfzig Jahren gewesen. Bei Hawking kam wohl ein Charakterzug hinzu, der im Unterbewussten mit geholfen hat, die Krankheit lediglich als beiläufiges Problem des Lebens bestehen zu lassen. Und das ist sein ausgebildeter Starrsinn. Dieser wiederum ist in der Biografie DIE ENTDECKUNG DER UNENDLICHKEIT weniger ausgeprägt. Die beginnt, als Stephen Hawking 1963 in Cambridge Jane Wilder kennen und lieben lernt. Zu dieser Zeit zeigten sich schon erste Symptome von ALS. Jane glaubt an diese Liebe, auch wenn zu diesem Zeitpunkt Stephens Lebenserwartung nur noch zwei Jahre betrug. Von ihrem zukünftigen Schwiegervater wird sie gewarnt, dass dies kein Kampf werden wird, sondern das Warten auf das Unausweichliche. 1965 heiraten Jane und Stephen, das Jahr in dem er mit seiner Doktorarbeit beginnt. Drei Jahre später kann er sich nur noch mit einem Rollstuhl fortbewegen.
Es ist eine erstaunliches Leben und es ist eine erstaunliche Liebe. Über Jahre musste Drehbuchautor Anthony McCarten auf Jane Hawking einreden, bis er das Recht für eine Adaption erhielt. Dass sich die Handlung dabei ein klein wenig mehr auf Jane verlagert, tut dem Film sehr gut. Schließlich hat sie die Initiative für diese Beziehung übernommen, zudem kommt aus ihrer Sicht mehr das Zwischenmenschliche zur Geltung, während auf Stephens Seite seine Arbeit im Vordergrund gestanden hätte. Wobei auf der anderen Seite seine Arbeiten im Bereich der theoretischen Physik bei schwarzen Löchern und der Relativitätstheorie dann doch eine Spur zu kurz kommen, und immer nur angerissen werden. Es gibt eine Szene in der Stephen Hawking nicht mehr in der Lage ist, sich selbstständig einen Pullover über den Kopf zu ziehen und festhängt. Doch durch die Fasern kann er das Kaminfeuer sehen, woraufhin ihn die Inspiration für eine Theorie überfällt. Es hätte durchaus mehr solcher Szenen vertragen, die auch tiefer in die Gedankenwelt des brillanten Geistes blicken lassen.
Hingegen gibt es in der eigentlichen Beziehung von Jane und Stephen keine Unstimmigkeiten. Die Chemie zwischen Felicity Jones und Eddie Redmayne entwickelt gerade in den schwerer werdenden Phasen im Verlauf seines Gesundheitszustandes eine unglaubliche Spannung. Regisseur James Marsh lässt dabei seine Akteure kaum reden. Er inszeniert das Wesentliche einer Szene über Bild und Spiel. Des öfteren kann man Jones, sprich Jane dabei beobachten, wie nahe sie der Verzweiflung ist. Nach lockeren, ungetrübten fünfundvierzig Minuten hat der Alltag die Familie Hawking eingeholt – soweit man in dieser Situation von einem Alltag sprechen kann. Aber so weit möglich verzichtet der Film auf dramaturgische Standards. Paradebeispiel ist die, als Jane ihren Mann wortlos mit einem Rollstuhl konfrontiert. Eigentlich idealer Ausgangspunkt für alle möglichen Konflikte, doch auch hier nutzt Marsh die Situation überraschend anders. In dieser Szene wird deutlich, wie Stephen für sich mit seiner Krankheit umgeht, indem er sie einfach akzeptiert, allerdings ohne sich ihr zu ergeben.
Eddie Redmayne ist dabei ein fast schon erschreckendes Abbild des berühmtesten Physikers unserer Zeit gelungen. Nach eigenen Aussagen verbrachte er Monate mit eine Tanzlehrer, um seinen Körper besser zu kontrollieren, und stand unzählbare Stunden vor einem Spiegel, um seine dem Krankheitsverlauf angemessene Körperhaltung zu trainieren. Und das Ergebnis ist überwältigend. Doch viel imponierender ist Redmaynes Spiel vor den körperlichen Einschränkungen durch ALS. Der Zuschauer bekommt tatsächlich einen laufenden, springenden, lachenden Mann zu sehen, den man eigentlich nur in einem Rollstuhl kennt, wo er fast bewegungslos verharren muss. Aber Redmayne macht nicht einfach nur den Eindruck eines jungen Stephen Hawking, sondern er wird zu dieser realen Figur.
Doch neben dem beeindruckenden Spiel und der sensiblen Regie, muss ein technisch-künstlerischer Bereich besonders hervorgehoben werden, und das ist die Makeup-Abteilung um Anita Burger, Kristyan Mallett, oder Jan Sewell. Selten hat ein Film mit alternden Charaktere überzeugender und realistischer ausgesehen. Nicht allein Redmaynes langsam deformierende Gesichtszüge, die mit prosthetischen Mitteln unterstützt wurden, sondern besonders der Alterungsprozess der über mehrere Jahrzehnte erzählten Geschichte. Es ist ein beeindruckender Anblick, wie man die dreißigjährige Felicity Jones von einer jugendlich Zwanzigjährigen, so glaubhaft zu einer über fünfzigjährigen Frau altern ließ. Diese Abteilung hat an allen Darstellern gezeigt was für eine hohe Kunst Makeup wirklich sein kann.
Während James Marshs Inszenierung und Timing wirklich stimmig sind, hätte die Handlung mehr Reibungspunkte vertragen. Auch wenn nach der Première Stephen Hawking Tränen in den Augen gehabt haben soll, weil alles so war, wie es die Leinwand gezeigt hatte, merkt man Zugeständnisse an die realen noch lebenden Personen. Jane und Stephen Hawking haben selbst die Dreharbeiten unterstützt, und so lag es offensichtlich sehr nahe, dass man denn Umständen der Geschichte entsprechend, immer wieder aufkommendes Konfliktpotential zugunsten der jeweiligen Figur abmilderte. Selbstverständlich muss aus dramaturgischen Gründen, eine Film-Adaption gewisse Abläufe verändern, oder sogar einmal in einen anderen Kontext setzen. So verliefen manche Streitgespräche in Wirklichkeit weniger harmonisch. Oder die Figur des Brian zum Beispiel ist eine Zusammenfassung verschiedener Charaktere. Das muss alles legitim bleiben, und wer sich noch immer darüber beschwert, ist ein Narr. DIE ENTDECKUNG DER UNENDLICHKEIT ist und bleibt ein sehr beeindruckender, und vor allem berührender Film, der vor allem dadurch zu Herzen geht, weil er sich ehrlich zeigt, ohne abgenutzte Sentimentalitäten zu bemühen. Auch wenn an Ecken und Kanten einiges ganz offensichtlich abgerundet wurde. Es bleibt ein stimmiges, greifbares Portrait zweier beeindruckender Menschen, die ihren Weg der Liebe wegen gegangen sind.
DIE ENTDECKUNG DER UNENDLICHKEIT – THE THEORY OF EVERYTHING
Darsteller: Eddie Redmayne, Felicity Jones, Harry Lloyd, Alice Orr-Ewing, David Thwelis, Emily Watson, Maxine Peake, Charlie Cox, Simon McCurney u.a.
Regie: James Marsh
Drehbuch: Anthony McCarten, nach Jane Hawkings Buch
Kamera: Benoît Delhomme
Bildschnitt: Jinx Godfrey
Musik: Jóhann Jóhannsson
Produktionsdesign: John Paul Kelly
123 Minuten
Großbritannien – Frankreich 2014
Promofotos Copyright Universal Pictures International
Ich muss gestehen, einer der Filme, die mich besonders wenig interessieren.
So wie ich Bandits Kritik verstehe, könntest Du was verpassen
Ich finde es etwas gewagt, zu sagen, dass ein Charakterzug/Starrsinn den Mann vor dem schnellen Tod durch ALS bewahrt hat.… :(
schreibs unter den artikel, Bandit ist nicht auf Facebook
Achso, weil Dein Name drübersteht… oder .. egal, ich schreibs drunter.
jaja, Artikel vor dem ersten Kaffe online gestellt, ist schon geändert.
Ich finde den Film hervorragend.
Sehr geehrte Anette,
ich gebe dir insofern Recht, dass in dem von dir bemängelten Satz ein ‘vielleicht’ besser gewesen wäre. Ich weiß von einem Freund, der Jane Hawkings Biografie gelesen hat, dass dieser Starrsinn wirklich sehr ausgeprägt war, oder noch ist.
Vor einem schnellen Tod hat ihn das sicherlich nicht gerettet, und erst später kam man zu der Überzeugung, das der Mann unter einer juvenilen ALS leidet. Also weit weniger aggressiv.
Gewagt finde ich die Aussage eigentlich nicht, weil ich schon von vielen Krankheitsfällen hörte, die wirklich durch Willenskraft besiegt wurden. Bei Ron Woodruf wurde 1986 HIV+ festgestellt, mit einer Lebenserwartung von 30 Tagen. Fantastisch gespielt von Matthew McConaughey in DALLAS BUYERS CLUB. Auch Woodruf wollte das einfach nicht akzeptieren, und lebte noch viele Jahre. Und gerade ein brillanter Geist wie Stephen Hawking, Genie und Wahnsinn leben ja immer sehr eng zusammen, wäre durchaus vorstellbar, dass dies einen Einfluss nehmen kann. Kann! Ich möchte nicht behaupten, dass es wirklich so ist.
Und ich wiederhole mich: Fünfzig Jahre hat dieser Mann bereits seinem prognostizierten Tod abgerungen. Das finde ich extrem beeindruckend.
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Ich finde den Film auch klasse. Habe bis jetzt leider erst zwei mal gesehen, aber werde ihn mir bestimmt bald mal wieder anschauen. Ich finde den Film toll für Zweisamkeit am Abend auf dem Sofa. :-)
Gruß,
Tilli