SNOWPIERCER Season 1 – bei NETFLIX ab 27.05.2020
Die Produzenten verweisen verstärkt auf die ursprüngliche Graphic Novel der Franzosen Jaques Lob und Jean-Marc Rochette für die Basis ihrer Serie. Optisch und erzählerisch ist die wirkliche Inspiration in Bong Joon Hos Leinwand-Adaption SNOWPIERCER zu finden. Bong Joon-ho ist letztendlich auch Co-Produzent bei dieser Serie, deren erste Entwürfe bereits sehr früh nach dem unerwarteten Erfolg des Filmes 2013 Gestalt annahmen. Fast unbemerkt, beinahe ignoriert, war SNOWPIERCER zuerst auf einschlägigen Festivals gelaufen. Es dauerte fast schon erschreckend lange, bis sich eine dann allerdings rasant schnell vergrößernde Fangemeinde bildete, durch die schließlich auch das Mainstream-Publikum aufmerksam wurde. Da war ein unscheinbarer Film unvermittelt zum Kultobjekt herangewachsen, langsam, aber stetig. Anstatt eine übliche Fortsetzung zu bemühen, war die Idee einer Serie vielleicht die beste aller Alternativen.
Nach einem gescheiterten Versuch auf künstlichem Wege die Erderwärmung zu stoppen, ist die gesamte Erde unter Eis erstarrt. Leben im Freien ist bei Minus 100 Grad nicht mehr möglich. Vor dem endgültigen Ende der Zivilisation wurde ein Zug gebaut, der mit 1001 Waggons eine in sich geschlossene Welt bildet. Eine auserwählte Élite soll in einer Endlosschleife um die Erde fahren, um den Erhalt der Menschheit zu garantieren. Doch kurz vor Abfahrt stürmen zum Sterben verdammte Demonstranten den »Snowpiercer«. Nur wenige der Eindringlinge überleben den zurückgedrängten Aufstand, werden dann allerdings im hinteren Teil des Zuges festgehalten und eingesperrt. Die auserkorene Élite lebt im vorderen Teil in Reichtum und Dekadenz, ihre Bediensteten in der dritten Klasse des Mittelteiles. Heruntergekommen, gedemütigt und ständig dem Hunger ausgesetzt, vegetieren die Aufständischen im Schwanz des Snowpiercers, deshalb auch »Tailies« genannt.
Seit nunmehr sieben Jahren kreist der Zug nun schon ohne anzuhalten um die Welt. Der Widerstand im hinteren Teil formiert sich mehr und mehr für einen Ausbruch, um das Klassensystem auszuhebeln. Doch dann geschieht ein Mord im vorderen Zugteil, und der einzige Detective aus alter Zeit ist Andre Layton, einer der Rädelsführer der Tailies. Seine angehende Ermittlungsarbeit im Vorderteil nutzt der ehemalige Polizist, um so viele Informationen wie möglich über Infrastruktur und Organisation des Zuges zu sammeln und an die Tailies zu übermitteln, um die Revolution schneller, gründlicher und sicherer durchführen zu können. Doch Andre Laytons Aufenthalt unter den Reichen wird im hinteren Teil schnell als Verrat missverstanden. Es ist aber nicht nur Laytons wiedererweckter Ehrgeiz, der ihn an dem Mordfall festhalten lässt, sondern auch der schleichende Verdacht, eine Aufklärung könnte das Machtgefüge im Snowpiercer ohnehin verändern.
Tatsächlich ist dies keine Inhaltsangabe, sondern ein Erklärungsversuch, was man nach zwei Episoden, also 120 Minuten SNOWPIERCER – DIE SERIE mitnimmt. Wirklich spannend ist das bis dahin noch nicht gewesen. Das kann allerdings daran liegen, dass die eigentliche Prämisse und der Aufbau des Szenarios gerade bei Genre-Freunden hinlänglich bekannt ist. Aber auch grundsätzlich zeichnet sich die Umsetzung nicht durch sonderliche Innovation aus. Die Unterschicht lebt zusammengepfercht und in abgerissenen Klamotten, sie wirken heruntergekommen und sind für eine ständig hungernde Schicht erstaunlich gut genährt. Leider zeigt sich hier die Dystopie als ziemlich herkömmliche Dystopie. Die überheblichen Reichen sind einfach zu überzogen und selbstherrlich, schon am Rande der Karikatur. Das hat genauso auch die Film-Adaption 2013 so gezeigt, allerdings schienen damals die Intentionen von Aussage und moralischen Anspruch auch viel gewichtiger, komplexer und vor allem komprimierter zu sein. Eine Richtung, die nach zwei Episoden Serie immer wieder anklingt, aber handlungstechnisch doch einen anderen Weg einschlägt. Vorerst, denn noch scheint der Snowpiercer noch nicht auf Höchstgeschwindigkeit zu fahren.
Die weitaus unbekannten Schauspieler sind durchaus gut besetzt. Daveed Diggs braucht etwas, um warm zu laufen, findet dann aber doch ein stimmiges Profil für seinen Charakter des hin und her gerissenen Detectives. Ebenso ergeht es Mickey Sumner als Laytons Verbindung Bess Till aus dem vorderen Zugteil. Als unsympathisch und hölzern in der ersten Episode eingeführt, gewinnt sie bereits in der zweiten Episode ungemein. Und man kann unschwer erkennen, wohin ihre Reise gehen wird. Als einzig wirklich großer Name ist Jennifer Connelly auf den Zug aufgesprungen, als selbstsichere und immer wieder überlegene Melanie Cavell, Stellvertreterin des Großindustriellen und Zugbesitzers Mr. Wilford. Connellys zurückhaltendes aber sehr präzises Spiel, zeigt bei näherer Betrachtung ganz langsam die Beziehung zwischen ihr und Wilford auf.
Manche Schwankungen zwischen den zwei ersten Episoden, ob optischer, charakterlicher oder inszenatorischer Art, könnten auf »kreative Unstimmigkeiten« zurückzuführen sein. Durch einen etwas unübersichtlichen Wechsel von Showrunner und Regisseuren wurde der erste – schon fertig abgedrehte – Pilotfilm verworfen. Auf dessen Grundlage allerdings das gesamte Serienkonzept aufgebaut war. Die jetzt gezeigte zweite Pilotepisode wurde mit einem neuem Ensemble und starken Drehbuchänderungen realisiert, von dem alten Filmmaterial kaum etwas erneut verwertet. Scott Derrickson hat als Regisseur des ursprünglichen Piloten eine weitere Zusammenarbeit abgelehnt, weil seiner Meinung nach das erste Drehbuch das beste Buch war, welches er jemals vorliegen hatte, und er daraus den bisher besten Film seiner Karriere gemacht hat. Es wird sicherlich keine Möglichkeit für einen Vergleich geben. Interessant sind diese Zusammenhänge für die eigentliche Entwicklung der Serie allerdings allemal.
Das Set-Design zeigt sich in einer zweckdienlichen Ausführung. Die schmutzigen, beengten Waggons der Tailies. Die lichten und strahlenden Kulissen der Oberklasse. Die nüchterne Rationalität im Führerstand. Und das bunte, verwirrende Gemisch von Ausstattung und Design in den alternativen Lebensbereichen, einer losgelösten Art von Hippie-Kultur. Keines der Sets präsentieren sich originell, oder überraschend. Die bizarre Welt des Snowpiercers ist eine Welt die man schon des Öfteren gesehen hat und kennt. Hinzu kommt das ständige Gefühl, dass die Architekten es mit den Maßstäben nicht so genau genommen hätten. Es scheint als wären die Breitenabmessungen der verschiedenen Settings in diversen Waggons eher den logistischen Ansprüchen der Crew angepasst worden, anstatt auf ein einheitliches Maß festgesetzt zu sein. Wurde dies als bewusstes Stilmittel gewählt, um dem Zuschauer eine visualisierte Unterscheidung zwischen den Klassen zu suggerieren, ist das nicht wirklich gelungen, sondern eher ablenkend.
Ein von Anbeginn fesselndes Zukunftsdrama ist SNOWPIERCER als Serie nicht geworden. Doch Potential ist mehr als reichlich vorhanden, um die Geschichte und die Hintergründe dieser Dystopie viel tiefer zu beleuchten, und vor allem die gesellschaftliche Kluft noch wesentlich interessanter zu gestalten. Manches glaubt man sogar schon zu erahnen, was allerdings abzuwarten bleibt. Die Filmadaption spielte 17 Jahre nach der Umweltkatastrophe, die stark an dieser Vorlage orientierte Serie hingegen ist nur sieben Jahre nach dem Start des Zuges angesetzt. Vielleicht, aber nur vielleicht, eröffnen sich auch hier einige interessante Möglichkeiten. Und war nicht irgendwann, irgendwo einmal von einem zweiten Zug die Rede?
Da SNOWPIERCER für den Sender TNT produziert wird und diesem die Verwertung für Amerika anheim fällt, unterliegt die Ausstrahlung der einzelnen Episoden einem wöchentlichen Rhythmus. Netflix bedient zwar den restlichen Weltmarkt, unterliegt aber dem amerikanischen Vetriebssystem. Das verwöhnte Netflix-Publikum muss sich deshalb den veralteten Sehgewohnheiten unterwerfen.
SNOWPIERCER
Darsteller: Jennifer Connelly, Daveed Diggs, Mickey Sumner, Sheila Vand, Alison Wright, Iddo Goldberg, Lena Hall, Mike O’Malley, Aaron Glenane, Karin Konoval, Sam Otto u.a.
Regie: James Hawes, Sam Miller, Helen Shaver, Frederick E.O. Toye, Everado Gout
Drehbuch: Graeme Manson, Chinaka Hodge, Donald Joh, Kelly Masterson, Hiram Martinez, Lizzie Mickery, Aubrey Nealon, Tina de la Torre
Entworfen von Graeme Manson, Josh Friedman
Nach dem Film SNOWPIERCER von Bong Joon Ho und Kelly Masterson
Basierend auf der Graphic-Novel von Jaques Lob & Jean-Marc Rochette
Kamera: John Grillo, Thomas Burstyn
Bildschnitt: Jay Prychidny, Marta Evry, Cheryl Potter, Allan Lee, Steve Polivka, Rebecca Valente
Musik: Bear McCreary
Produktionsdesign: Barry Robison
1 Staffel 10 Episoden
je ca. 60 Minuten
USA 2019
Promofotos Copyright Netflix