FREE GUY – Bundesstart 12.08.2021
»Es ist ein Film, der seine Erzählung von vorne bis hinten auf Standardelementen aufbaut«, ist das Schlechteste was man über FREE GUY sagen kann. Was man unter anderem Gutes sagen kann, dass kaum einem auffällt, wie hier ein Versatzstück nach dem anderen ausgelotet ist und genutzt wird. FREE GUY ist wie ein aufgeblasener Ballon, bei dem man einfach das Mundstück loslässt. Man weiß was passieren wird, aber man weiß nie, wie es passieren wird. Auf alle Fälle ist es ein irrer, wirrer Flug der unberechenbar bleibt. Und da kann das Wissen um all die bekannten Story-Elemente sogar für ordentliche Verwirrung sorgen. Wir lernen unseren Kumpel (um vorerst noch deutsch zu bleiben) so kennen, wie er sich selbst wahrnimmt: Ein sonniger Kerl, der tut was er tun soll und es gut findet, weil es seine Bestimmung ist. Hellblaues Kurzarmhemd, beige Hose, unbeeindruckt von dem, was um ihn herum passiert, weil es eben so passieren soll. Es ist die moderne Fassung von Truman Burbank, der dereinst isoliert in einem gigantischen Fernsehstudio aufgewachsen ist und dort sein Leben verbrachte.
Was ein NPC ist, soll hier nicht erklärt werden, nur um den Stolz des Verfassers zu wahren. Im Rahmen des Films wird dieser Begriff inflationär gebraucht, damit sich Kritiker und Feuilletonisten als kundige Gamer beweisen können. Der Begriff Gamer wird an dieser Stelle auch nur gebraucht, weil »Spieler« im Deutschen zu sehr nach Pilsbar und Spielautomat klingt. Um aber einmal abzukürzen: FREE GUY macht so viel mehr Spaß, wenn man selbst der Freizeitbeschäftigung von Computerspielen nachkommt. Im Allgemeinwissen bereits verankert sind da Titel wie FORTNITE oder GRAND THEFT AUTO. Solch ein Spiel ist FREE CITY, in der unser Kumpel Guy existiert. Er ist schmückendes Beiwerk in der ausladenden grafischen Darstellung dieser künstlichen Welt – und taugt nur dazu, Bonuspunkte für weltliche Spieler zu sammeln.
Doch anstelle seines programmierten Weges folgt er eines Tages, von Amors Pfeil getroffen, dem weiblichen Avatar eines Spielers. Irgendetwas läuft da schief im Spiel, wenn sich ein Charakter selbständig macht. Von Tag zu Tag, oder Spiel zu Spiel, für Guy ist das ja selbst nicht nachvollziehbar, wird er selbstbewusster und bringt immer mehr die Ordnung des eigentlich eingeschränkten Handlungsrahmens durcheinander. Für Guy ist seine Pixelwelt das wahre Leben, so wie er sich selbst eben auch als real wahrnimmt. An den Rechnern bringt das natürlich alle echten Gamer (!) aus der Fassung, weil Guy nicht zu kontrollieren ist. Das ruft aber auch die Programmierer Millie und Keys auf den Plan, die davon überzeugt sind, dass Antwan als angeblicher Entwickler von FREE CITY, ihren Code und damit die Grundlage des erfolgreichen Spiels gestohlen hat.
Warum, wieso, weshalb, das muss der Zuschauer selbst herausfinden, weil es zu komplex für eine kurze Abhandlung wäre. Außerdem ist es auch wesentlicher Teil des Films, Mechanismen, Wesen und vor allem die Philosophie von Spielern und Spielen zu erkunden und zu verstehen. Was gleichzeitig als geniale Einbeziehung von unbedarften Nicht-Spielern funktioniert. Dem unbedarften Betrachter sei von einem unkundigen Laien versichert, dass FREE GUY auch ohne Programmier- oder Spielerkenntnis wahnsinnig viel Freude bereitet. Mit Kenntnis ist der Film aber merklich noch eine paar Level höher im Unterhaltungswert.
Ein ganzes Ensemble an offensichtlich gut aufgelegten Darstellern bereitet ansteckendes Vergnügen, wobei natürlich der jungenhafte Charme von Ryan Reynolds unschlagbar bleibt. Vom naiven Underdog zur selbstbewussten Leitfigur überzeugen heute im Kino nur wenige so sympathisch und einnehmend wie Reynolds. Wohingegen Taika Waititi als übertrieben egozentrischer Spielentwickler, immer leicht über das Ziel hinaus schießt und am im Showdown völlig aus dem stimmigen Rahmen der Handlung fällt. Denn die reale Welt soll sich eigentlich schon geerdeter zeigen, entgegen der losgelösten, alles-ist-möglich Umgebung innerhalb von FREE CITY.
Dass die Macher allesamt selbst Computerspiel-affin sind, ist nicht einfach nur PR-Gerede, sondern fällt in allen Bereichen der technischen Umsetzung auf. Am auffälligsten ist dabei die Kameraarbeit von George Richmond, der zweifellos ziemlich nerdige Unterstützer hatte. Während die Realität relativ herkömmlich und in blasseren Tönen umgesetzt ist, sind die Einstellungen in FREE CITY knallig bunt und Kamerawinkel grafisch gerade und im rechten Winkel. Zoomt die Kamera aus dem Spiel über einen Bildschirm in die Realität, wandeln sich die Darsteller in Pixel-Figuren. Null Score für den der denkt, FREE CITY würde mit seiner optischen Umsetzung künstlerisch hausieren gehen. Man muss der Kamera im Zusammenspiel mit dem Schnitt eine wunderbar suggestive Subtilität attestieren.
Weniger strukturiert zeigt sich der Humor, der alle Level von Hommage über Kalauer bis hin zum hintersinnigen Kommentar abdeckt. Dass der Film alles wild durcheinander wirbelt, erhöht nur die Aufmerksamkeitsspanne, was sich also durchaus zugunsten aller Zuschauerschichten auswirkt, wo wirklich niemand über längere Strecken zu kurz kommt. Da werden genussvoll Vorurteile gegenüber Gamern ausgekostet, doch ebenso die Leidenschaft von Spielern ernst genommen und zelebriert.
In der ersten Hälfte der Geschichte trägt Guy noch sein hellblaues Kurzarmhemd, und als er sich in seiner wachsenden Individualität für einen hellblauen Langarmpulli entscheidet, erkennt ihn sein einziger NPC-Freund nicht wieder. Oder Guy generiert sich in FREE CITY zur Verteidigung Captain Americas Schild, was Cap-Darsteller Chris Evans in der Realität ein „what the shit?“ entlockt. Man geht aber auch tiefer, wenn Atwan das Spiel offline nimmt und dazu Daft Punks TRON LEGACY Töne erklingen. Dem Nachfolger des ersten Filmes, der sich ernsthaft mit dem Innenleben eines Computer auseinandersetzte.
Es ist also mächtig was geboten in und um Free City und unserem neuen Freund Guy. Das alles auch nur annähernd in seiner Fülle zu erfassen erfordert allerdings einen Kinobesuch. FREE GUY hat bestimmt nicht die tiefe philosophische Energie von TRUMAN SHOW. Aber was beide Filme eint, ist die übergreifende Leidenschaft für die Geschichte und das Gespür eine unmögliche Situation wie selbstverständlich nachvollziehbar zu machen und echt scheinen zu lassen. Mit FREE Guy hat ein verflixter Kinosommer endlich einen rettenden Helden gefunden, man muss ihn nur zwischen all den aufgeblasenen Avataren ausfindig machen.
FREE GUY
Darsteller: Ryan Reynolds, Jodie Comer, Lil Rel Howery, Utkarsh Ambudkar, Joe Keery und Taika Waititi u.a.
Regie: Shawn Levy
Drehbuch: Matt Lieberman, Zak Penn
Kamera: George Richmond
Bildschnitt: Dean Zimmerman
Musik: Christophe Beck
Produktionsdesign: Ethan Tobman
115 Minuten
Kanada – Japan – USA / 2021
Bildrechte: DISNEY ENTERPRISES