Trotz der Zielgruppe »ältere Kinder« oder eher »junge Erwachsene« (schwerpunktmäßig weiblich), die derzeit dank Stephenie Meyer hauptsächlich mit Schmusevampiren oder ähnlichem Liebesschmonzes bombardiert werden, kann es ja auch recht lesbaren Stoff unter den für Jugendliche vorgesehenen Romanen geben, wie nicht zuletzt beispielsweise HARRY POTTER, die LARKLIGHT-Trilogie oder SKULLDUGGERY PLEASANT beweisen.
Doch leider hatte ich mich zu früh gefreut. GEFÄHRLICHE LÜGEN von der amerikanischen Autorin Amy Kathleen Ryan (im Original SKY CHASERS 1 – GLOW) gehört nämlich zum Schlechtesten, was ich in nicht nur in letzter Zeit, sondern in meiner gesamten SF-Laufbahn lesen musste – und die dauert immerhin seit deutlich über 30 Jahren an. Um ein fundiertes Urteil abgeben zu können habe ich mich tatsächlich durch den gesamten Roman gequält, auch wenn ich mehrfach kurz davor war, abzubrechen.
Klappentext:
Der Auftakt zur großen Sternensaga! Die 15-jährige Waverly gehört zu den ersten Kindern, die an Bord des Sternenschiffes Empyrean geboren wurden. Jedermann erwartet, dass sie bald ihren Freund Kieran heiraten wird, um eine Familie zu gründen und das Überleben der Menschheit auf der langen Reise zu einem fernen Planeten zu sichern. Waverly liebt Kieran sehr – aber ist sie trotzdem schon bereit, so früh diesen entscheidenden Schritt zu gehen? Das friedliche Leben endet dramatisch, als wie aus dem Nichts das lange verschollen geglaubte Schwesterschiff angreift, die Erwachsenen tötet und alle Mädchen entführt. Während Kieran auf der schwer beschädigten Empyrean um sein Überleben kämpft, muss Waverly viele Lichtjahre entfernt alles daransetzen, zu ihm zurückkehren zu können …
Die »große Sternensaga« berichtet über die Abenteuer einer Gruppe Jugendlicher und Kinder, die auf einem Generationsschiff namens Empyrean lebt. Dieses Raumschiff ist zusammen mit einem Schwesterschiff seit ungefähr 45 Jahren auf dem Weg in ein anderes Sonnensystem, um dort einen Planeten zu terraformen und zu kolonisieren.
Die Protagonisten des Romans sind die fünfzehnjährige Waverly und der gleichaltrige Kieran, die in der Geborgenheit des Schiffes aufwachsen und durch unerwartete Ereignisse aus ihrem üblichen Leben gerissen werden.
Das andere Schiff, die New Horizon, hat eigentlich deutlichen Vorsprung, deswegen ist man an Bord der Empyrean natürlich erheblich verwundert, als von dort Kontakt aufgenommen wird und man feststellen muss, dass es entgegen aller Erwartungen ganz in der Nähe ist.
Es kommt zu einem Angriff durch die Besatzung der New Horizon, in dessen Verlauf nicht nur alle weiblichen Kinder aus der Empyrean entführt, sondern auch alle Erwachsenen außer Gefecht gesetzt, entführt oder getötet werden. Waverly muss nun für sich und die anderen Mädchen einen Weg zurück aufs Heimatschiff finden und Kieran versucht, die Lage auf der beschädigten Empyrean halbwegs unter Kontrolle zu bringen.
Das in kurzen Worten die Rahmenbedingungen des Romans. Der Ansatz den die Autorin verfolgt, ist leicht zu erkennen und sie selbst weist auch im Nachwort darauf hin: Es sind deutliche Parallelen zu den amerikanischen Gründervätern zu erkennen – das hätte eine attraktive Idee werden können, leider krankt die Durchführung gleich mehrfach.
Die gesamte Handlung ist insbesondere aus technischer Sicht in hohem Maße unglaubwürdig, die Situation an Bord des Generationenschiffs wird geschildert wie »ganz normales Leben«. Spezialisierte Techniker scheint es kaum oder nicht zu geben, die Besatzung besteht offensichtlich fast ausschließlich aus Bauern, die Getreide und Früchte anbauen und sich um Ziegen, Kühe und Hühner kümmern, um das Überleben der Schiffsbesatzung zu ermöglichen. Unglaubwürdig. Weitere Kleinigkeiten wie die Tatsache, dass man aus »Steingut« isst (im Ernst …), passen ebenfalls nicht ins Bild. Letzteres ist völlig unsinnig – wenn man über Jahrzehnte unterwegs ist, muss man zwingend auf recyclebare Materialien zurückgreifen.
Die Autorin bedankt sich im Nachwort für Unterstützung bei der »Physik«, weil sie selbst sich nach eigener Aussage »besser mit Worten auskennt«. Das kann ich so definitiv unterschreiben. Etliche Abschnitte der Handlung können nur als hanebüchen bezeichnet werden. Sei es die Beschreibung der Raumfahrt an sich, die gern Hard-SF sein möchte, aber schon den Raumflug nicht korrekt hinbekommt, sei es die Tatsache, dass man Strahlung im Schiff einfach durch »Entlüften« beseitigen kann (und verstrahlte Personen mit Dekompressionsschäden dann nur »ein wenig reinen Sauerstoff« (!) brauchen) oder sei es der völlig unglaubwürdige Fakt, dass junge Erwachsene auf einem Schiff mit begrenztem Personal nicht rechtzeitig mit grundlegenden Handhabungen vertraut gemacht wurden, die überlebensnotwendig sind. Entfernte Objekte im All werden mit »Radar« (!) angemessen. Zahllose weitere gründlich verbockte Details kommen hinzu – das ist SF wie sie sich vielleicht Lieschen Müller aus der letzten Ecke von Wyoming (der Heimat der Autorin) vorstellt, aber keinesfalls mehr. Auch für die Zielgruppe ist das übrigens Unsinn, die inhaltlichen Schwächen sind keinesfalls altersabhängig.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Art und Weise, wie die Autorin alle Erwachsenen »entsorgt«, damit die Kinder auf sich allein gestellt die Haupthandlungsträger sein können, derart an den Haaren herbei gezogen und unglaubwürdig ist, dass es schon fast weh tut.
Die auf sich allein gestellten Jugendlichen – insbesondere die auf der Empyrean zurückgelassenen Jungs – benehmen sich derart dumm, dass man sie am liebsten sofort übers Knie legen möchte. Das ist ein Aspekt der Handlung, der zumindest halbwegs glaubwürdig erscheint, allerdings wird auch hier außer Acht gelassen, dass das Verhältnis von Jugendlichen an Bord eines räumlich stark begrenzten Raumschiffs ein deutlich anderes sein muss, als uns auf der Erde geläufig. Leider verschenkt die Autorin auch diese Möglichkeit und die Teenager benehmen sich einfach wie Teenager. Wie extrem nervige Teenager.
Das Seine zum gruseligen Eindruck trägt übrigens auch noch die Übersetzung bei, der man leider allzu deutlich anmerkt, dass auch die Übersetzer (es waren zwei, aus welchen Gründen auch immer) leider offenbar keinerlei Ahnung von Technik haben. Liebe Übersetzer, das Wort »dekompressiert« gibt es nicht, und man sollte auch das im Englischen verwendete »decompressed« nicht einfach durch ein schnell erfundenes Kunstwort ersetzen. Es heißt zwar »Dekompression«, aber das korrekte Verb wäre hier »dekomprimiert« gewesen – man hätte auch etwas mit »Druckabfall« oder »luftleer« formulieren können.
Und: auch wenn man im Original »to plot a course« schreibt, dann ist es im Deutschen nicht wirklich üblich (wenn auch von der Herkunft her grundsätzlich nicht ganz falsch), »einen Kurs abstecken« zu verwenden. »Einen Kurs eingeben« oder »einen Kurs anlegen« hätte gepasst, auf einem Raumschiff arbeitet niemand mit einem Zirkel, wie zu Zeiten der christlichen Seefahrt.
Das waren jetzt nur zwei Beispiele, aber es gab diverse mehr, bei der die Nomenklatur entweder nicht stimmte, oder Sätze, denen man die falsche Übersetzung deutlich ansehen konnte, weil das englische Original noch »durchschimmerte«, statt dass man auf eine passende deutsche Formulierung zurück gegriffen hätte.
In Sachen Sprache der handelnden Personen muss man sich ebenfalls fragen, ob es sein muss, dass diese sich eines Duktus’ befleißigen, wie er uns heute geläufig ist, obwohl die Handlung zum einen in einer nicht allzu nahen Zukunft spielt und sich zum anderen die Sprache in einem eng begrenzten Lebensraum wie dem Schiff mit einer sehr kleinen Gruppe von Menschen aufgrund dieser besonderen Umstände fast zwangsläufig auch in nur knapp 50 Jahren verändern muss. Aber wie oben schon angesprochen: die Menschen auf dem Schiff benehmen sich wie Bauern, nicht wie ausgebildete Raumfahrer, deren einziger Lebensraum eben der künstliche des Raumschiffs ist.
Da ich soeben schon das Wort »christlich« benutzt habe: ein Aspekt der Handlung ist die Tatsache, dass von den beiden auf die Reise geschickten Schiffen eins ein »christliches« und eines ein »säkulares« ist. Soll heißen: um Konflikte zu vermeiden, hat man die Gläubigen auf den einen Kahn verfrachtet und diejenigen, die nicht so auf Gott stehen auf den anderen, zumindest wird dem Leser das am Anfang so verkauft.
Später muss man dann feststellen, dass die Leute auf dem »säkularen« Schiff Empyrean zum einen doch irgendwie Christen sind – überspitzt dargestellt gehen die Menschen auf der New Horizon einmal die Woche in den Gottesdienst, die auf der Empyrean einmal im Monat. Und die gläubigen Moslems wurden auch auf die Empyrean verfrachtet, weil die Verantwortlichen vor der Abreise der Ansicht waren, diese würden auf das »christliche« Schiff nicht passen.
Man möge mir die offenen Worte vergeben, aber das klingt leider nach verschrobenem amerikanischen Glaubensbild. Auch, dass gläubige Moslems aufs »säkulare« Schiff kommen, weil ihr Glaube nicht »passt«, ist eine derart offensichtlich amerikanische Doktrin, dass es weh tut.
In der Handlung klingt dann auf einmal eine Christentums-Kritik an. Nachdem ich erst fast positiv überrascht war, nehme ich an, dass das in den weiteren Bänden der Reihe garantiert relativiert werden wird, denn auch das kauft man der Autorin nicht ab. Ich vermute, dass sich in den angedrohten späteren Bänden alle geläutert werden und sich der »wahren« Religion wieder zuwenden.
Ebenfalls konservativ amerikanisch und schier unerträglich ist das Gesellschaftsbild, das in diesem Roman vermittelt werden soll. Auch wenn die weibliche Protagonistin vordergründig ein starker und unabhängiger Charakter ist, wird die Rolle der Frau dennoch mehrfach eindeutig und ganz offensichtlich unkritisch als »am Herd« und »Kinderausträgerin« für den Neuanfang der Menschheit auf dem neuen Planeten verortet. Ich habe mich mehrfach bei der Lektüre gefragt, ob dieses das Frauenbild ist, das Droemer Knaur den jugendlichen Leserinnen vermitteln möchte, indem sie dieses Machwerk übersetzen lassen und als Hardcover unters Volk werfen. Das Beschriebene mag vielleicht in Wyoming gerade noch so durchgehen, auf mich wirkte es geradezu mittelalterlich.
Es existiert so viel hervorragende US-SF auch für Heranwachsende und Jugendliche (man muss nur mal einen Blick auf die alljährlichen Science Fiction-Awards jenseits des großen Teichs werfen), dass ich mich ernsthaft frage, warum gerade eine derartige Nullnummer wie GEFÄHRLICHE LÜGEN an den Torwächtern des Verlags vorbei kommen kann? Wer sucht so etwas aus? Und mit welcher Intention? Weil das School Library Journal (abgekürzt: SLJ, eine amerikanische Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendbibliothekare) den Wälzer ausgezeichnet hat? Das muss noch lange nicht bedeuten, dass er für den deutschen Markt geeignet ist. Verlegt lieber was Ordentliches oder vielleicht mal einen deutschen Autor!
Zum nicht besonders originellen Cover möchte ich mich nicht detailliert äußern, nur so viel: es hat nichts mit dem Inhalt zu tun und ist mit der Darstellung einer Halskette leider allzu offensichtlich als »Köder« für die anvisierte weibliche Leserschaft ausgelegt worden. Ein Klischee mehr.
Als Fazit bleibt mir nur zu schreiben, dass dieser Roman auf allen Ebenen versagt: insbesondere die Science in der Fiction ist nahezu nicht vorhanden und das Beschriebene hanebüchen, die Story ist in weiten Teilen Mumpitz, Werte und Weltbild mittelalterlich, die Übersetzung schlecht. Die zahlreichen Defizite sind nicht darin begründet, dass ich nicht zur Zielgruppe gehöre, die sind alters- und geschlechtsunabhängig. Ab 12 Jahren ist es aufgrund der beschriebenen physischen und psychischen Gewalt übrigens definitiv nicht geeignet.
Finger weg!
Ach ja: qualitativ passend zum Inhalt des Buches ist auch der »Buchtrailer«: gruselig.
STERNENFEUER Band 1 – GEFÄHRLICHE LÜGEN
Amy Kathleen Ryan
Hardcover – Science Fiction
empfohlenes Alter: 12 – 16 Jahre
432 Seiten – 16,99 Euro
Erscheinungsdatum: 01.03.2012
ISBN-10: 3426283611
ISBN-13: 978–3426283615
PAN-Verlag
p.s.: nach dem Verfassen der Rezension habe ich mal im Netz nach anderen Meinungen zu diesem Roman gesucht. Die meisten die ich gefunden habe (in Blogs oder auf Lovelybooks) stammen von jungen Frauen, die zum Teil fast euphorisch über die Darstellung und die Handlung (und die komplizierte Beziehung zwischen Kieran und Waverly) äußern. Mal abgesehen davon, dass man als nicht-SF-affine Leserin möglicherweise noch darüber hinwegsehen könnte, dass die technischen Details derart hanebüchen sind, kann ich persönlich nicht verstehen, wie diese Leserinnen das präsentierte antiquierte Frauenbild so unkritisch gutheißen können.
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Coverabbildung Copyright Pan/Droemer Knaur
Du bist sooo fies oO
Jetzt habe ich böse Szenen vor Augen, wie der Bootsmann die Matrosen in die Wanten schickt, um die Sonnensegel zu setzen, während der Kapitän auf dem Achterdeck bei der Positionsbestimmung verzweifelt, weil er nicht weiß, welche Sonne er anpeilen soll. Ich glaube, bevor sie die Tiefe loten, um die Asteriodenschwärme zu umgehen, werde ich mich jetzt betrinken.
Und ich wollte noch was tippen heute… aber mit diesen Kicheranfällen wird dat nix, leider. :D
Beim lesen der »High-Tech« Bestandteile dieses Werkes die hier genannt werden, lief mir ein Schauer über den Rücken, wie man es normalerweise nur von guten Horror-streifen kennt. Empfehle der Autorin des Buches DRINGEND sich mit ECHTEM SF auseinanderzusetzen oder sich ein anderes Genre zu suchen. Zu dem Weltbild das in dem Buch verherrlicht wird fehlen einem zivilisierten Menschen wie mir die Worte. Das einzige eignung dieses Buch nach deiner Bewertung (die Bäume die für die Auflage herhalten mussten können einem ehrlich leid tun) sehe ich in der Nutzung als Feueranzünder XD
Ich bin grundsätzlich gegen das Verbrennen von Büchern.
Das Weltbild wird präsentiert und nicht in Frage gestellt, aber nicht »verherrlicht«.
war vllt etwas hard ausgedrückt, doch was sollte man sonst sinnvolles damit anfangen?^^
ok, ok es wird nicht verherrlicht, aber sehr leicht beeinflussbaren Kinder solch ein Weltbild als »gut« verkaufen zu wollen ist zumindest grob fahrlässig – findest du nicht auch?
Was ich »finde« steht im Artikel. »Grob fahrlässig« ist nicht darunter. Du solltest von solchen übertriebenen und sachlich falschen Aussagen absehen.
Das besprochene Buch habe ich mir als Remittente für 3 EUR mitgenommen, ein bischen drin quergelesen und war froh, dass ich nur 3 EUR dafür ausgegeben habe. Ich greife einmal Deine Bemerkung auf, es gäbe so viel bessere amerikanische SF, die man stattdessen hätte übersetzen lassen können. Da stimme ich Dir sehr zu!. Es gibt sicher zahlreiche Beispiele mehr, aber als ich das las, dachte ich spontan an Caroline Janice Cherryh. Die schreibt zwar nicht ausdrücklich für Kinder / junge Erwachsene, aber eine ganze Reihe ihrer Bücher scheinen mir auch für diese Zielgruppe gut geeignet (Die Cyteen-Trilogie, Downbelow Station, Finity’s End etc. pp.) Die sind vor vielen Jahren auch mal auf deutsch bei Heyne verlegt worden und ich frage mich, warum die nicht wieder aufgelegt werden. Wirklich schade, dass eine so »wertvolle« Autorin in Deutschland kaum noch bekannt ist. Ich dachte bei Deiner Bemerkung aber v. a. an die mittlerweile 16 Bände aus dem Foreigner-Universum. Die ersten drei wurden damals (auch bei Heyne) übersetzt, danach hat man nichts mehr auf dem deutschen Markt von der Autorin gehört. Eine Schande, weil ihre »anthropologische SF« ein einmaliges Phänomen ist und soviel an Einsichten in gesellschaftliche Vorgänge und das Zusammenleben verschiedener Kulturen vermittelt, dass man es geradezu zur Pflichtlektüre für junge Leute (und nicht nur die) machen müsste. Ich verstehe nicht, warum plötzlich kein Verlag mehr diese Autorin für den deutschen Markt verfügbar machen will. Gut, ich lese sie im Original. ist eh besser, aber die vielen Leute die nicht dazu in der Lage sind, kann man doch nicht einafach so im Stich lassen – und dann eine Frau Ryan als Ersatz anbieten!