LES MISÉRABLES dreamed a dream

Wenn man sich fra­gen soll­te, wen man mit einer unend­lich wie­der­hol­ten Ver­fil­mung von Vic­tor Hugos Stoff jetzt eigent­lich noch in den Kino­ses­sel locken will, dann genü­gen die ers­ten Minu­ten von Tom Hoo­pers Insze­nie­rung. Ganz offen­sicht­lich woll­te der KINGS SPEECH-Regis­seur ein­mal von den lei­sen, aber gro­ßen Fil­men Abstand gewin­nen. Her­aus­ge­kom­men ist ein nur gro­ßer Film, ein sehr gro­ßer, der Kino­fans und Musi­cal-Lieb­ha­ber glei­cher­ma­ßen in den Kino­ses­sel zu locken ver­steht. Wenn der laxe Ver­gleich vom »ganz gro­ßen Kino« ein­mal unbe­streit­bar zutrifft, dann bei die­ser x‑ten Ver­fil­mung von Vic­tor Hugos LES MISÉRABLES, das sich als Musi­cal zu den drei meist gespiel­ten und popu­lärs­ten Büh­nen­shows der Welt zäh­len darf.

Die Kame­ra taucht aus dem umtos­ten Meer auf und gibt den Blick frei auf ein rie­si­ges Schiff, das von Straf­ar­bei­tern in ein Tro­cken­dock gezo­gen wird. Wir ler­nen den Ver­ur­teil­ten Val­jean ken­nen, der unter den gestren­gen Augen sei­nes Wäch­ters Javert, sei­nen letz­ten Tag in Gefan­gen­schaft abar­bei­tet. In die­ser ers­ten Sze­ne ist alles, was der Zuschau­er auch für den Rest der über 150 Minu­ten zu erwar­ten hat. Alles ist episch. Alles ist mehr als das Leben. Die Bil­der sind gewal­tig, die Büh­nen­bil­der gigan­tisch, gespielt wird mit einer erschre­cken­den Ener­gie, es gab nie mehr Schmutz auf der Lein­wand, gelit­ten wird wie in kei­nem ande­ren Film. Der Zuschau­er erlebt eine Reiz­über­flu­tung, die man erst ein­mal ver­kraf­ten muss.

Hoo­per sowie Kame­ra­mann und Bild­ge­stal­ter Dan­ny Cohen haben sich dafür eine beson­de­re, aber auch gewöh­nungs­be­dürf­ti­ge Bild­spra­che ein­fal­len las­sen. Die Gesangs­num­mern wer­den über­wie­gend in Halb­na­hen-Ein­stel­lun­gen direkt in die Kame­ra gesun­gen. Cho­reo­gra­fier­te Tanz- oder Show­ein­la­gen redu­zie­ren sich auf eine Hand­voll. Und das ist ver­dammt wenig bei einem Musi­cal, in dem, bis auf eben­falls eine Hand­voll gespro­che­ner Sät­ze, alles gesun­gen wird. Es ist eben alles mehr, als bei ande­ren Fil­men. Dass Hoo­per sei­ne Dar­stel­ler am Set live sin­gen und auf­neh­men ließ, kommt dem Film dahin­ge­hend ent­ge­gen. Die Sän­ger rich­ten sich mit dem Gesang nach ihrem Spiel, und müs­sen sich eben nicht einer vor­auf­ge­zeich­ne­ten Musik unter­wer­fen. Das gibt allem noch ein­mal eine zusätz­li­che Inten­si­tät, wel­che bei Hugh Jack­man und Rus­sell Cro­wes »The Con­fron­ta­ti­on« beson­ders zur Gel­tung kommt. Bei Anne Hat­ha­ways »I Drea­med a Dream« aller­dings erreicht die­se über­wäl­ti­gen­de Dyna­mik einen Höhe­punkt, der im wei­te­ren Ver­lauf ein­fach nicht mehr zu über­bie­ten ist. Die­se vier­ein­halb Minu­ten sind in einer ein­zi­gen Ein­stel­lung gedreht, die nur Hat­ha­ways schmut­zi­ges und sehr trau­ri­ges Gesicht zeigt. Hier geht LES MISÉRABLES ans Herz und an die Nie­ren.

Aber LES MISÉRABLES ist ganz gro­ßes Kino. Und man hat stän­dig das Gefühl, das er sich dabei selbst im Wege steht. Gro­ßes wird über­bor­dend dar­ge­stellt, was schmut­zig sein soll­te, könn­te nicht schmut­zi­ger sein, und was pathe­tisch sein kann, hat man nicht pathe­ti­scher erlebt. Ohne Zwei­fel ist Tom Hoo­per ein gran­dio­ses Epos gelun­gen, das Musi­cal-Lieb­ha­ber über­wäl­ti­gen wird und Cine­as­ten froh­lo­cken lässt. Es bleibt aber ganz schwer zu sagen, ob das alles wirk­lich so im Sin­ne der Insze­nie­rung zusam­men­passt, weil dem Publi­kum auch kei­ne Mög­lich­keit zum Durch­at­men gege­ben wird. »Ganz gro­ßes Kino« ganz gewiss, aber KINGS SPEECH hat gezeigt, das weni­ger manch­mal viel mehr ist. Man darf durch­aus auch ein­mal einen Schritt zurück tre­ten.

LES MISÉRABLES
Dar­stel­ler: Hugh Jack­man, Rus­sell Cro­we, Anne Hat­ha­way, Aman­da Sey­fried, Sacha Baron Cohen, Eddie Red­may­ne, Aaron Tveit u.v.a.
Regie: Tom Hoo­per
Dreh­buch: Wil­liam Nichol­son, Alain Bou­blil, Clau­de-Michel Schön­berg, Her­bert Kretz­mer
Musik: Clau­de-Michel Schön­berg, Text: Her­bert Kretz­mer
Kame­ra: Dan­ny Cohen
Bild­schnitt: Chris Dickens, Mela­nie Oli­ver
Pro­duk­ti­ons­de­sign: Eve Ste­wart
zir­ka 158 Minu­ten
USA 2012

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