Bundesstart 21.10.2021
Mit appetitanregenden Halb-Spoilern.
Dass VENOM von 2018 seine, gelinde gesagt, inszenatorischen Schwächen hatte, können auch Fans nicht schönreden. Aber VENOM war in erster Linie eine Tom Hardy-Show. Der Mann, der immer nur einstecken muss, weil es eine eigenartige Community von irgendwelchen Hardlinern so will. Sein Max Rockatansky wäre niemals ein Ersatz für Mel Gibson. Bane würde unter seiner Maske nur Grunzlaute hervorbringen. In DUNKIRK würde er nur in einem Flugzeug herumsitzen. Selbstredend alles Unsinn. Und geflissentlich übersehen diese Menschen jene Filme, die Tom Hardy gemacht hat, um überhaupt dorthin zu kommen für die Rolle in MAD MAX qualifiziert zu sein. Tom Hardy hat eine körperliche Intensität, die den meisten Darstellern, vor allem im Mainstream, schmerzlich abgeht. Und genau das macht VENOM stark und unterhaltsam. Und genau das macht VENOM: LET THERE BE CARNAGE unumgänglich.
Sie sind Butch und Sundance des Marvel-Zeitalters, nur nicht ganz so attraktiv, aber genauso unkonventionell. Die ins Stocken geratene Karriere des Reporters Eddie Brock könnte durch Interviews mit Serienkiller Cletus Kasady wieder Aufwind bekommen. Das hat etwas zeitgeistiges, sind doch Gespräche von Verhaltensanalytikern mit Mehrfachmördern seit der Serie MINDHUNTER ganz auf der True-Crime-Welle. Doch viel tiefer will Teil zwei gar nicht darauf eingehen. Kelly Marcels Drehbuch nimmt Abstand davon, VENOM 2 auf eine intellektuell überhöhtes Niveau zu heben, was ohnehin nur aufgesetzt wirken würde.
Regisseur Andy Serkis, der den Regisseur des ersten VENOM, Ruben Fleischer, ersetzte, versteht ziemlich gut, worauf es bei einem Stoff wie diesem ankommt und wie er die Elemente gewichten muss. Auf der einen Seite setzt er alles auf Dynamik, und gesteht seinem Film keinen Leerlauf zu. Doch auf der anderen Seite ist er keineswegs nur auf Krawall aus. Jede Szene ist sorgsam auf die nächste eingestellt, und alle handlungsspezifischen Aspekte müssen plausibel sein. So weit eben ein Superhelden-Alien-Monster-Film innerhalb seiner eigenen Welt plausibel sein kann.
Ein exzellentes Beispiel wie hochkarätiges Schauspiel einen auf Spaß und Popcorn ausgerichteten Film über das Niveau einfacher Unterhaltung hebt, sind die Streitgespräche zwischen Eddie Brock und seinem Symbionten Venom. Der fährt schon einmal seine beliebig veränderbaren Tentakel aus Brocks Körper, um etwas kaputt zu schlagen, oder zeigt sich gleich von Angesicht zu Angesicht um lautstark zu diskutieren. Venom darf trotzdem niemanden zur Nahrungsaufnahme den Kopf abbeißen. Und die beiden extra dafür besorgten Lebendhühner Sonny und Cher bleiben verschont, weil sie Venoms beste, bzw. einzige, Freunde geworden sind.
VENOM 2 besticht durch geschliffene Dialog, die nicht auf Schenkelklopfer geschrieben sind, sondern ihren genialen Humor durch das energetische Zusammenspiel der Protagonisten entfaltet. Denn Andy Serkis kann auch ziemlich gut Zwischenmenschliches inszenieren. Ein unglaubliches Timing und fabelhaftes Spiel zeigt sich in den Szenen zwischen Michelle Williams als Anne Weying und Tom Hardy. Da antwortet der Symbiont ganz anders im Gedanken seines Wirts, während Brock versucht, Anstand gebietend zu lügen, aber sichtbar mit Venoms Wahrheiten zu kämpfen hat. Zum spaßigen Ausgleich geschieht dies später noch einmal in verkehrten Rollen, wenn sich Venom in Annes Körper befindet.
Was VENOM 2 an einer kompliziert verstrickten Handlung lieber vermeidet, macht er mit seinem gesamten filmischen Konzept umso besser. Wiederkehrende Charaktere aus dem Original werden nicht nur aus nostalgischen Gründen zurückgebracht, sondern erfüllen handlungstechnisch auch einen nachvollziehbaren und nicht an den Haaren herbeigezogenen Zweck. Und eine sehr angenehme Überraschung zeigt sich in der Lösung von Anne und Eddies anfangs gebrochener Beziehung. Dann werden noch zwei Charaktere eingeführt, die sehr geschickt als notwendiges Beiwerk gezeigt werden, und dann doch entscheidende Rollen einnehmen.
Wie der gesamte Film in seiner wohl durchdachten Konzeption auffällt, nimmt zudem Marco Beltramis ungewöhnliche Musikuntermalung einen besonderen Stellenwert ein. Die starken Anleihen an die gotischen Horrorfilme der Dreißiger, geben den Auftritten von Cletus Kasadys Carnage und seiner Partnerin Shriek eine einzigartige Atmosphäre. Ohnehin bricht man bei Harrelsons Kasadys mit den gewöhnlichen Klischees des absolut Bösen. Harrelson darf sich wohl in seiner für ihn typischen und geliebten Manier als Antagonist erklären. Mit mahnenden, drohenden und prophezeienden Sätzen beschreibt er alles Übel, und zitiert die für Genre-Schurken typischen Vergleiche von hanebüchenen Gemeinsamkeiten. Nur dass Venom, lediglich für den Zuschauer und Brock hörbar, diese pathetische Rede mit sarkastischen Kommentaren ad absurdum führt.
Andy Serkis hebt mit diesen kleinen Besonderheiten seinen Film unauffällig in eine besondere Stellung. Denn in VENOM 2 werden alle Versatzstücke bedient – und das wird mit einer Ernsthaftigkeit umgesetzt, die eindeutig zeigt, dass man dies nicht zwanghaft ernst zu nehmen hat. Die Intention zu gesunder Selbstreflexion ist eindeutig, ohne dabei etwas ins Lächerliche zu ziehen, und dem Gedanken der Vorlage wird immer Rechnung getragen.
Als wunderbares Sahnehäubchen erweist sich das Vermögen von Serkis, Action zu inszeniert. Und bei der behalten die Zuschauenden immer den Überblick. Das Tempo ergibt sich aus längeren Einstellungen, die mit perfekt abgestimmten Kamerabewegungen eine rasante Dynamik entwickeln. Wo sonst mit üblichen kurzen Schnittfolge immer nur die Augen und Aufmerksamkeit der Betrachter verwirrt werden, kann im fünfzehn Minuten Showdown jede Figur und deren handeln genau verfolgt werden.
Doch die exzellente Kunst der Choreographie beweist sich bereits zu Beginn in einem atemberaubenden »Zweikampf« von Eddie Brock mit sich selbst. Wenn eine Auseinandersetzung wieder einmal eskaliert und Venom versucht, die Motorik über den Körper seines Wirts zu übernehmen. Das ist ungemein witzig, tut aber auch gleichzeitig richtig weh. Da braucht es keine 16er oder 18er Freigabe, die besorgte Stimmen im Vorfeld forderten. Der Film versteht auch so sehr gut die Absichten und Möglichkeiten von Venom und Carnage deutlich zu machen. Dass sich Andy Serkis dafür vollkommen auf die Möglichkeiten einer rund um gelungenen Unterhaltung fokussierte, macht VENOM: LET THERE BE CARNAGE zu einem Muss für Genre Fans. Und zu einem »Du wirst es nicht Bereuen« für Quereinsteiger.
Und über die Post-Credit-Scene braucht man nicht zu sprechen. Es würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen – und bliebe doch nur Spekulation.
VENOM – LET THERE BE CARNAGE
Darsteller: Tom Hardy, Woody Harrelson, Michelle Williams, Naomie Harris, Reid Scott, Stephen Graham, Peggy Lu u.a.
Regie: Andy Serkis
Drehbuch: Kelly Marcel, Tom Hardy (Story)
Kamera: Robert Richardson
Bildschnitt: Maryann Brandon, Stan Salfas
Musik: Marco Beltrami
Produktionsdesign: Oliver Scholl
Kanada – Großbritannien – USA / 2021
97 Minuten
Bildrechte: SONY PICTURES ENTERTAINMENT