ETERNALS – Deutschlandstart 04.11.2021
Wenn ein Film schon mit Pink Floyds TIME anfängt …
Ob man sich bei Marvel wohl hätte träumen lassen, wohin das Marvel Cinematic Universe führen würde? Ich denke: ja. Und ich denke auch, dass man sich mit der Vision an Disney gewandt hatte, um die Sicherheit zu haben, das Mammutwerk auch tatsächlich umsetzen zu können und die hohen Mächte dort die Größe dieser Vision erkannt hatten (und selbstverständlich auch, dass man damit voraussichtlich geradezu unanständige Mengen an Geld generieren kann).
Der erste große Bogen war nach über einem Jahrzehnt mit AVENGERS: ENDGAME abgeschlossen. Abzusehen ist, dass damit allerdings nicht nur kein Ende erreicht wurde, sondern dass es so fortgeführt werden soll – und das inzwischen nicht nur im Kino, sondern mit ebenfalls rasend erfolgreichen Serien auf dem Streamingkanal Disney+. Man fragt sich unwillkürlich, ob es denn ewig so weiter gehen kann, oder ob irgendwann eine Abnutzungserscheinung stattfinden wird.
Nach ENDGAME lieferte man uns noch einen SPIDER-MAN, der eigentlich wie ein Nachschlag zum Finale wirkte, eine BLACK WIDOW, der definitiv ein (dringend überfälliger) Nachschlag zu den ersten zehn Jahren war und mit SHANG-SHI eine nach der Epik der beiden AVENGERS-Abschlussfilme eher gebremste Origin-Geschichte (die allerdings von kreativen, neuen Ideen nur so strotzte und »nebenbei« für Asiaten etwas Ähnliches ablieferte, wie es BLACK PANTHER für Schwarze getan hatte).
Und jetzt: ETERNALS. Ich muss zugeben, dass ich diese Superheldentruppe nicht kannte, weswegen ich an den Film unvoreingenommen heran gehen konnte. Was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn wie so oft in der Vergangenheit beweist Marvel auch hier, dass sie es verstehen, das scheinbar immer gleiche Superhelden-Thema immer wieder neu, frisch und vor allem überraschend inszenieren und präsentieren können. Wobei tatsächlich überraschen sollte das eigentlich niemanden, denn im Gegensatz zu DC ist Marvel schon seit Langem dafür bekannt, in den Comics nicht nur komplexe Charaktere und Beziehungen zu inszenieren, sondern kann auch auf einen schier endlosen Fundus auf Figuren, Versatzstücke und Handlungsbögen aus 60 Jahren Verlagsgeschichte (82 Jahre, wenn wir die Vorgängerfirmen Magazine Management und Timely Comics mitzählen) zurückgreifen, die man fürs Kino so stark variieren kann, dass der Hardcore-Fan trotz Bekanntem etwas Neues bekommt – und der Marvel-Unkundige ohnehin etwas völlig Unbekanntes vorgesetzt bekommt. Und schon hat man beide Zielgruppen in Kino.
Dazu kommt die unglaubliche Bandbreite an Inszenierungs- und Erzählstilen, mit denen das MCU vor der Zuschauerin ausgebreitet wird.
Und das gilt insbesondere für ETERNALS, denn der ist für einen sogenannten Superheldenfilm äußerst ungewöhnlich umgesetzt. Ja, es gibt natürlich die typischen Actionszenen, ja auch in epischem Ausmaß, aber tatsächlich erlaubt sich Regisseurin und Autorin Chloé Zhao in diesem Film ein in meinen Augen schon erstaunliches Maß an ruhigem Storytelling, an Charaktervorstellung, ‑Entwicklung und ‑Interaktion. Sie und die die Horde von Co-Drehbuchautoren nehmen sich Zeit, diese neuen Figuren einzuführen und dabei kommt etwas Erstaunliches heraus, nämlich eine Art Ensemble-Kammerspiel-Drama ohne Kammer und mit durchaus epischen Zwischeneinlagen. Dazu erhält die Zuschauerin eine für einen Popcorn-Superheldenfilm enorme Komplexität von Handlung und Charakterbeziehungen, bei denen ich denke, dass sie manch einen Besucher im Kinositz deutlich überfordern dürfte (Edit: … und wie ich aktuellen Kritiken entnehmen kann, ist auch so mancher vermeintliche Profi-Kritiker offenbar überfordert). Weiterhin werden auch hier, wie von Marvel ohnehin bekannt, vermeintliche Bösewichter sauber motiviert und verkommen nicht zu Abziehbildern und Stereotypen. Das gilt sogar für (vermeintliche) »Nebenböse«.
Und beinahe nebenher hebt Marvel mit den »Andeutungen mitten ins Gesicht« sein Universum mal eben auf ein neues Powerlevel. Dachten wir, dass Infinity-Steine, Neutronensterne als Waffenschmieden, verrückte Universenentvölkerer namens Thanos und ähnliche Shenanigans die oberen Powerlevel des Universums sind, eben quasi das … äh … Endgame, bekommt man in ETERNALS kackendreist präsentiert, dass das bisher alles eigentlich eher Kinderkram war – und dafür bräuchte es eigentlich noch nicht einmal Kindergags über Thor. Beeindruckend – und wenn das eine Vorschau darauf war, was uns im zweiten Jahrzehnt des MCU so alles erwartet, sollten in Kinositzen besser Anschnallgurte installiert werden. Besonders bemerkenswert ist das übrigens gerade deswegen, weil ETERNALS sich eben im Großen und Ganzen – wie bereits angedeutet – viel, sehr viel, Zeit für ruhige und erzählerische Sequenzen gibt – dagegen hebt sich die komplett überdrehte, überbordende Epik gleich besonders ab.
Ich denke, dass dieser MCU-Film äußerst kontrovers betrachtet werden wird, man wird ihn lieben oder hassen, eben deswegen, weil er gegen die Erwartungen an einen Superheldenfilm arbeitet. Aber genau das ist in meinen Augen seine Stärke. Kontrovers wird man auch sehen, dass die Besetzung konsequent auf Diversität setzt, daran werden die üblichen Verdächtigen sicher herumzutrollen haben, genauso wie am schwulen Kuss, der eigentlich im Jahr 2021 keinerlei Erwähnung mehr wert sein sollte, über den ich mich aber dennoch freue, weil er ein Mittelfinger in Richtung homophobe Deppen ist. Umso schöner, dass diese Diversität gerade bei den Ethnien aus der Story heraus aber eben einfach unfassbar viel Sinn ergibt und deswegen in keinster Weise aufgesetzt ist oder wirkt.
Natürlich muss man bereit sein, sich darauf einzulassen, was einem hier mit viel Chuzpe vorgesetzt wird. Die Marvel-Fannin hat das alles schonmal irgendwo gehört bzw. gelesen, aber die restlichen Kinobesucherinnen sollten sich damit anfreunden, dass ein lilafarbener Titan in einer griechischen Rüstung oder eine Time Variance Authority nicht das obere Ende an im MCU plausiblen Verrücktheiten darstellen. Noch lange nicht. Wer darauf keinen Bock hat, der sollte das Popcorn stehen lassen, dem Lichtspielhaus fern bleiben und sich lieber anderen Filmen und Filmreihen zuwenden. Und verpasst was.
Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, bekommt einen eher untypischen, deswegen aber nicht weniger guten Superheldenfilm, der uns alle schon mal darauf vorbereitet, was Marvel uns in den nächsten Phasen des MCU so um die Ohren hauen wird.
Und es ist abzusehen, dass auch der Mitte Dezember startende SPIDER-MAN: NO WAY HOME das MCU ganz ordentlich durcheinander wirbeln wird. Wie das zu den Informationen passen will, die man in ETERNALS bekommt, und wie sich das dann am Ende wieder in einen Zyklus fügen wird, wird abzuwarten sein. Ich denke, es wird episch werden.
Und dann sind da noch diese Post-Credits-Szenen …
ETERNALS
Besetzung: Gemma Chan, Richard Madden, Angelina Jolie, Salma Hayek, Kit Harington, Kumail Nanjiani, Lia McHugh, Brian Tyree Henry, Lauren Ridloff, Barry Keoghan, Ma Dong-seok, Harish Patel u.v.a.m.
Regie: Chloé Zhao
Drehbuch: Chloé Zhao, Patrick Burleigh, Ryan Firpo, Kaz Firpo nach Figuren von Jack Kirby
Produzenten: Kevin Feige & Nate Moore
Ausführende Produzenten: Victoria Alonso, Louis D’Esposito, Kevin de la Noy
Kamera: Ben Davis
Schnitt: Dylan Tichenor, Craig Wood
Musik: Ramin Djawadi
Produktionsdesign: Eve Stewart
Casting: Sarah Finn, Anna Tenney
157 Minuten
USA 2021
Promofotos Copyright Walt Disney Pictures und Marvel Studios