Bandit bespricht: DISNEY’S CRUELLA

CRUELLA – Bun­des­start 28.05.2021 – oder DISNEY+ Star

Kann und wird Spu­ren von Spoi­lern enthalten.

Das Broad­way-Musi­cal WICKED hat­te als Ori­gin-Sto­ry einen unglaub­lich guten Ansatz gefun­den, der Geschich­te des Zau­be­rers von Oz eine ori­gi­nel­le Wen­dung zu geben. Todd Phil­lips und Scott Sil­ver woll­te für ihren JOKER kei­ne über­ra­schen­de Wen­dung, aber eine plau­si­ble psy­cho­lo­gi­sche Ver­or­tung. Das hat wun­der­bar funk­tio­niert, und in bei­den Fäl­len das Ursprungs­ma­te­ri­al sogar noch inten­si­viert. In der Lis­te des Ame­ri­can Film Insti­tu­te steht Schwes­ter Rat­ched aus KUCKUCKSNEST noch immer auf Rang fünf der meist gefürch­tets­ten und gehass­ten Film­schur­ken. In der Net­flix-Serie RATCHED hat Evan Roman­skys Blick zurück die­ser Repu­ta­ti­on nicht gescha­det. Aber es hat über­haupt nichts dazu bei­getra­gen, wie ich Mild­red Rat­ched aus dem KUCKUCKSNEST sehe oder ver­ste­he. Ich muss das auch nicht wis­sen. War­um und wie oder womit ein Böse­wicht so wur­de wie er oder sie ist. Nicht wenn die Figur so gut geschrie­ben und gespielt ist, dass allei­ne sei­ne Ver­derb­lich­keit den Cha­rak­ter recht­fer­tigt. Vader oder Micha­el Myers, nicht ihre ver­dreh­te Mensch­lich­keit bestimmt die Fas­zi­na­ti­on, son­dern ihr Wesen als Essenz des Bösen.

Estel­la ist jung und unbe­küm­mert, als sie den Tod ihrer Mut­ter beob­ach­ten muss. Doch gestärkt durch eine lie­be­vol­le und umsich­ti­ge Erzie­hung fin­det sie ihren Weg. Und das im Lon­don der swin­gen­den Sieb­zi­ger. Der Weg zur Mode­de­si­gne­rin ist aller­dings noch lang und stei­nig, also hält sie sich mit Betrü­ge­rei­en über Was­ser. Unter­stützt wird sie von ihrer Wohn­ge­mein­schaft Jasper und Hor­ace, selbst­re­dend ihre bes­ten aber auch ein­zi­gen Freunde.

Das ist durch­aus nett anzu­se­hen. Die Sze­ne­rie sprüht vor Ener­gie und wit­zi­gen Ein­fäl­len und die Cha­rak­te­re sind alle­samt net­te Men­schen, denen ein­fach noch kei­ne Chan­ce gege­ben wur­de. Schlimm dar­an ist nicht, dass sich Regis­seur Craig Gil­le­spie soviel Zeit damit lässt, son­dern dass das kaum etwas zu dem bei­trägt, was ich bereits über Cru­el­la de Vil aus drei Fil­men ken­ne. (Spoi­ler) Dass drei wüten­de Dal­ma­ti­ner für den Tod ihrer Mut­ter ver­ant­wort­lich sind, spielt im Ver­lauf der Hand­lung kei­ne Rol­le. Ich ver­ste­he dies als einen zuge­wor­fe­nen Hun­de­ku­chen, damit ich eine Bezie­hung zu der Ori­gi­nal-Geschich­te her­stel­len kann (wei­te­re Spoi­ler wer­den nicht ausbleiben).

 

Erst mit dem Auf­tritt der Baro­ness, einer ego­ma­ni­schen, rück­sichts­lo­sen Mode­schöp­fe­rin, beginnt die eigent­li­che Hand­lung. Da ist der Film bereits 45 Minu­ten gelau­fen. Die Baro­ness erkennt natür­lich umge­hend das Poten­ti­al der jun­gen Estel­la und wird zu ihrer Men­to­rin. Auch wenn sich eine herr­lich has­sens­wer­te Emma Thomp­son und die quir­li­ge Emma Stone die Sze­nen noch so streit­bar und ver­gnüg­lich um die Ohren spie­len, wird Estel­las cha­rak­ter­li­che Ent­wick­lung nicht vom erwar­tungs­ge­mäß Augen­schein­lichs­ten geprägt.

Estel­la soll­te genau­so wer­den, wie die abscheu­li­che Baro­ness, oder sich zum exak­ten Gegen­teil ent­wi­ckeln. Bei­de Cha­rak­te­re sind glei­cher­ma­ßen von ihrer uner­schüt­ter­li­chen Selbst­über­schät­zung getrie­ben. Mein Inter­es­se flaut ab, weil der eigent­li­che Aus­gang der Geschich­te schon fest­ge­schrie­ben steht. Über­ra­schun­gen sind dabei nur noch im Hand­lungs­ver­lauf mög­lich. Aber eine plötz­li­che Wen­dung in der Bezie­hung bei­der Haupt­fi­gu­ren ist dann doch nur hin­der­lich, weil sie ein Zuge­ständ­nis an mei­ne gefäl­li­gen Seh­ge­wohn­hei­ten sind und der psy­cho­lo­gi­schen Tie­fe im Weg steht, die ich eigent­lich zu erle­ben wünsche.

Wirk­lich irri­tie­rend ist aller­dings die Inkon­sis­tenz im Hand­lungs­ab­lauf und der atmo­sphä­ri­schen Umset­zung. An den stark sub­ver­si­ven Ton kann man sich schnell gewöh­nen, aber im Hin­ter­kopf ist immer das Label »Dis­ney«. Die Alters­frei­ga­be ab sechs Jah­ren ist sehr frag­wür­dig, dafür ein erneu­ter Beweis, dass die deut­sche Film­be­wer­tungs­stel­le frei Schnau­ze wählt und für Eltern kei­ne ver­läss­li­che Unter­stüt­zung ist. CRUELLA ist ver­gnüg­li­ches Gau­ner­stück, star­kes Dra­ma, unter­halt­sa­me Komö­die, und noch vie­les mehr – und nicht zum Besten.

Ein­mal ist Estel­la ein knall­har­tes Stra­ßen­kind, dann wie­der unter­wür­fi­ge graue Maus. Je nach Bedarf ist sie her­risch, oder demü­tig, manch­mal so, und dann wie­der anders. Was mich fas­zi­niert hat und bei Lau­ne hielt, ist der ener­gi­sche Fluss, in dem Craig Gil­le­spie den Film hält. Traum­wand­le­risch schwebt immer­zu Nico­las Kara­ka­t­sa­nis Kame­ra durch die Set­tings, ver­dich­tet Sze­nen auf inti­me Nähe zu den Figu­ren, oder offen­bart die opu­len­te Ästhe­tik. Gil­le­spie setzt Stil kom­plett über Sub­stanz. Die gran­dio­sen Kos­tü­me wer­den wich­ti­ger als der emo­tio­na­le Wer­de­gang der Figu­ren. Cha­rak­ter­mo­ti­va­ti­on rich­ten sich nach dem nächs­ten Set­ting, nicht nach einer stim­mi­gen Ent­wick­lung. Und mit 35 Songs gibt es den musi­ka­li­schen Over­kill. Mir ist »Sym­pa­thy for the Devil« von den Stones so auf­dring­lich offen­kun­dig ein­ge­setzt, dass ich in der gut gemein­ten Absicht eine künst­le­ri­sche Hilf­lo­sig­keit beim Regis­seur ver­mu­ten möchte.

Als eigen­stän­di­gen Film hät­te ich CRUELLA tat­säch­lich inter­es­sant gefun­den. Dazu wäre es aber not­wen­dig gewe­sen, die Aspek­te des Kin­der­ki­nos in einen deut­lich erwach­se­ne­ren Rah­men zu set­zen. Und Estel­la als Ver­kör­pe­rung des Punk in der Mode­welt strin­gen­ter durch­ge­setzt. Aber »Ori­gin«, die­ses Zau­ber­wort für Ein­falls­lo­sig­keit in der Bran­che, war für mich an die­ser Stel­le unan­ge­mes­sen. Der Film wäre ganz leicht auch ohne drei wüten­de Dal­a­ma­ti­ner aus­ge­kom­men, oder Cru­el­las iko­no­gra­fi­schen Pan­ther De Vil­le. Jasper und Hor­ace unter­schei­den sich ohne­hin grund­le­gend von dem Die­bes­ge­spann aus der Vor­la­ge. Cru­el­la de Vil ist eine durch und durch ver­dor­be­ne Per­son. Will ich da wirk­lich die Ursprün­ge wis­sen? Eigent­lich zu spät, trotz­dem bin ich nach Craig Gil­le­spies CRUELLA nicht wirk­lich viel schlauer.

CRUELLA
Dar­stel­ler: Emma Stone, Emma Thomp­son, Joel Fry, Paul Wal­ter Hau­ser, John McCrea, Mark Strong, Kay­van Novak, Kir­by How­ell-Bap­tis­te u.a.
Regie: Craig Gillespie
Dreh­buch: Dana Fox & Tony McNamara
nach 101 DALMATINER von Dodie Smith
Kame­ra: Nico­las Karakatsanis
Bild­schnitt: Tatia­na S. Riegel
Musik: Nicho­las Britell
Pro­duk­ti­ons­de­sign: Fio­na Crombie
134 Minuten
Groß­bri­tan­ni­en – USA 2021

Bild­rech­te: DISNEY ENTERPRISES

AutorIn: Bandit

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