Als der Postbote mir einen neuen Fantasy-Roman aus dem Hause Knaur ins Haus brachte, erwartete ich nach einem Blick auf den Klappentext erst einmal Schlimmes. Denn eine Reise eines Protagonisten aus unserer (oder fast unserer) Realität in eine Fantasy-Welt ist nun wirklich ein alter Hut, egal ob es sich dabei um einen Autoren, eine Rollenspielrunde oder jemanden ganz anderen handelt (JOHN CARTER OF MARS, NARNIA, Die Chroniken von Thomas Covenant, Bannsänger, Flusswelt, Hüter der Flamme, um nur mal ein paar bekannte Beispiele zu nennen). In vielen Fällen geht der Ansatz aber leider gar fürchterlich ins Auge und es gibt haufenweise ganz, ganz üble Fanfiction in der Richtung.
Und so bereitete ich mich bereits innerlich auf einen Verriss des über 500 Seiten starken Ziegelsteins aus deutschen Landen vor, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass das was werden konnte. Doch meine Befürchtungen wurden nicht erfüllt und ich dafür freudig überrascht, denn der Roman ist wirklich gut.
Vorsicht! Auch bei der Besprechung dieses Buches lassen sich ein paar üble Spoiler nicht vermeiden!
Klappentext:
Der junge Autor Tom Schäfer steht unter Druck. Nach dem großen Erfolg seines ersten Buches über den Fantasy-Helden Laryon warten Verlag und Leser auf die Fortsetzung, und ausgerechnet jetzt leidet er unter einer Schreibblockade. Doch dann findet er sich eines Tages plötzlich in seiner Buchwelt wieder. Im ersten Moment ist Tom geschockt, doch auf den zweiten Blick gefällt ihm der Gedanke hervorragend: Das könnte die Lösung seiner Probleme sein! Aber Tom hat die Rechnung ohne Laryon gemacht. Der ist von Toms Auftauchen nämlich alles andere als begeistert, wird seine Heimat doch von einer Gefahr bedroht, die Laryons ganze Aufmerksamkeit fordert …
Die Autorin umschifft geschickt die Gefahr der Profanität, die entstehen kann, wenn Romanautoren auf ihre Schöpfer treffen (oder umgekehrt) und bedient sich dabei eines genialen Schachzugs. Denn tatsächlich hat der Autor die Figur gar nicht erschaffen, er »steuert« sie nur; Grund hierfür ist ein kompliziertes Geflecht aus sogenannten »Worthütern« (den Schreibern) und »Wortgestalten«, den von ihnen gesteuerten Protagonisten, die allerdings durchaus ein Eigenleben haben. Und damit ist im Prinzip der Clou des Romans auch schon raus – leider macht eine Besprechung ohne diesen Hinweis wenig Sinn, denn er stellt den zentralen Punkt des Romans dar.
Bis zu dieser Erkenntnis geschieht allerdings das ein oder andere und lange Zeit laufen Geschehnisse in der realen und der Fantasywelt parallel zueinander ab, ohne dass es direkt erkennbare Zusammenhänge zu geben scheint – da wird halt erzählt, was der fiktive Autor erlebt und was er schreibt. Das hat die reale Autorin allerdings geschickt in Szene gesetzt und führt den Leser erst nach und nach an die Hintergründe des Ganzen heran.
Das Setting ist überaus erfrischend und mir so auch noch nicht vorgekommen, allein schon deswegen ist HÜTER DER WORTE durchaus empfehlenswert und hebt sich von der Idee her recht weit von Durchschnitts-Fantasy oder der von den Verlagen in letzter Zeit zum Gipfel des Schaffens erhobener Romantasy nach immer gleichem Strickmuster ab. Allein schon dafür, einen Roman zu veröffentlichen, der sich abseits des Trends und des üblicherweise im Fantasy-Bereich derzeit Angebotenen bewegt, gebührt Kaur Lob. HÜTER DER WORTE verzichtet weitestgehend auf überstrapazierte Genre-Versatzstücke und ‑Klischees und bezieht sich höchstens verschmitzt in Kleinigkeiten darauf, beispielsweise wenn ein Hundepaar in der Fantasywelt »Kobold« und »Elfe« heißen (und das auch noch sauber begründet wird).
Im weiteren Verlauf müssen sich scheinbarer Schöpfer und scheinbare Schöpfung dann nicht nur zusammen raufen, sondern auch noch feststellen, dass sie eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen haben. Das macht Spaß zu lesen, auch wenn hier und da ein paar Zeilen weniger mehr gewesen wäre. 80 bis 100 Seiten kürzer zu sein hätte dem Roman gut getan.
HÜTER DER WORTE ist nicht perfekt. Zum einen ist die Sprache recht unspektakulär, was mir besonders deswegen auffiel, weil ich direkt zuvor Sean O’Connells TUATHA DE DANANN gelesen hatte, der doch über eine deutlich kraft- und druckvollere Sprache verfügt als Diana Menschig. Das mag aber auch Geschmackssache sein.
Ich hätte mir zudem dringend einen ausgeprägteren Unterschied bei der Sprachwahl der beiden Welten – also quasireale Erde und mittelalterliches Land Willerin – gewünscht. Dass an beiden Orten ein eher modernes Deutsch gesprochen wird, wirkt in der Fantasy-Welt fehl am Platz, zudem mag ich es nicht, wenn ein Protagonist aus einem mittelalterlichen Hintergund »genervt« ist – ich halte das einfach für unpassend und stimmungstötend. Es hätte der Erzählung viel an Kontrast und Stimmung verliehen, wären die Unterschiede auf sprachlicher Ebene deutlicher ausgefallen – und auch die Unterschiede des Duktus zwischen Tom und Laryon. Wäre das so umgesetzt gewesen, hätte ich HÜTER DER WORTE trotz der nachstehenden Negativpunkte als Autorinnen-Erstling fünf von fünf Punkten gegeben.
Denn auch ein paar Logiklöcher gibt es. Beispielsweise sollen zeitliche Probleme zwischen Erlebnissen der Wortgestalten und dem Schreiben der Worthüter – die aus dramaturgischen Gründen an ein paar Stellen zeitgleich geschehen müssen – durch einen speziellen Ort ausgeglichen werden, die »Halle«, an dem Zeitlosigkeit herrscht. Das wäre so weit eine ganz gute Idee, doch wird auch von der Erde aus an den Geschichten in Willerin geschrieben und werden auch von dort Wortgestalten gesteuert – und da ist von Zeitlosigkeit nicht die Rede. Das kann so in Sachen Kausalität und Abfolge nicht passen – wer den Roman liest, wird verstehen, was ich meine.
Erfreulich die Tatsache, dass der Roman über weite Strecken ohne Gewalt auskommt, ohne diese ganz auszublenden, auch das selten in klassischer Fantasy. Und ich habe auch nichts gegen ein paar zünftige Gemetzel, allerdings wären sie im HÜTER DER WORTE fehl am Platz gewesen. Unverständlich hingegen die schon fast amerikanisch wirkende Prüderie, wenn eine Sex-Szene ausgeblendet wird und das halbgar damit begründet wurde, dass der Worthüter dem eben nicht beizuwohnen hat – und dafür dann auch zufällig der Laptop des Worthüters beim Schreiben der Szene abstürzt. Das hätten Autorin und Lektorat anders lösen sollen. Man verstehe mich nicht falsch: ich muss die Szene nicht beschrieben haben, aber die Erklärung war nicht glaubwürdig und wirkte albern.
Eine Metaebene weniger bei den Worthütern wäre auch gut gewesen, aber das mit den überzähligen Metaebenen gab es sogar im hochgelobten Mindfuck INCEPTION, deswegen geht das in diesem Roman allemal in Ordnung – der Weg musste wohl gewählt werden, um den fiktiven Autor zu retten – das hätte man aber auch leicht anders lösen können.
Trotz der schieren Länge des Buches kommt das Ende, die Auflösung, dann vergleichsweise schnell daher und wird auch nur eher kurz beschrieben. Hier hätte ich mir deutlich mehr gewünscht.
Alles in allem überwiegen aber die Vorteile des Romans die Nachteile bei Weitem. Er setzt eine originelle Idee kurzweilig und lesenswert um; die oben genannten Probleme sind zum Teil sicherlich auch Geschmackssache und konnten auch meinen Lesespaß nicht maßgeblich verringern. Wirklich geärgert habe ich mich nirgendwo. Wirklich schön ein paar Anspielungen auf Popkultur und Pen&Paper-Rollenspiel (der gewiefte Charakter nimmt ein Seil mit. Immer).
Wer einen Fantasy-Roman für Leser ab ca. 14 Jahren sucht, der das Thema »reale Welt trifft auf Fantasy« flüssig lesbar und kurzweilig neu interpretiert, der sollte zu HÜTER DER WORTE greifen. Wer eher auf Sword & Sorcery mit epischen Schlachten und mächtiger Magie steht, sollte einen Bogen um das Werk machen. Besonders erfreulich ist für mich, dass der Roman aus deutschen Landen stammt.
Ich gebe vier von fünf Chara-Stempel.
p.s.: Ach ja – überaus erfreulich der Preis von nur 9,99 Euro für den Ziegelstein von über 500 Seiten. Deutlich weniger schön, dass die eBook-Version dasselbe kostet. Was soll der Unsinn?
HÜTER DER WORTE
Diana Menschig
Fantasy-Roman
Taschenbuch, Klappenbroschur
544 Seiten, EUR 9,99
1. Oktober 2012
ISBN-10: 3426511118
ISBN-13: 978–3426511114
eBook-Version (Kindle)
EUR 9,99
ASIN: B008B1TK1K
Knaur
[cc]
Coverabbildung und Klappentext Copyright 2012 Knaur
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Hallo Stefan,
vielen Dank für Deine guten Worte ;-)
Die Print-Ausgabe ist einfach sehr günstig und immerhin gibt es im eBook ja ein über 30-seitiges Zusatzkapitel als Bonus.
LG Tom
Gern.
Auch ein Zusatzkapitel rechtfertigt den eBook-Preis nicht. Was ist das denn für ein Kapitel? Warum ist es im Printbuch nicht drin? Ich finde das, ehrlich gesagt, etwas merkwürdig.
Es wird hier ausführlich erklärt: http://www.worthueter.de/tom/blog/archives/2012–07/e‑book_vs_taschenbuch.int.html
Für ein gedrucktes Buch entstehen ja pro Buch Kosten, die umso höher werden, je dicker das Buch ist. Je höher die Kosten, umso höher auch das finanzielle Risiko – vor allem bei einem unbekannten Autor.
Beim eBook dagegen fallen ein paar Seiten mehr oder weniger kaum ins Gewicht.
Das Kapitel selbst ist die Rückblende, die in 2–3 Seiten auf Seite 66 abgehandelt wird in der Langform (Ein Rückblick auf Laryons Kindheit).
Sie trägt wenig (bis nichts) zur Plotentwicklung bei, jedoch viel zur Stimmung (finde ich).
(Man kann sie unter dem Stichwort »Leseprobe« auch im Blog nachlesen…)
Danke für den Hinweis.