In einer der letzten Szenen sagt ein Charakter zu Philippe Petit, er hätte ihnen Leben eingehaucht, ihnen eine Seele gegeben. Die Zwillingstürme des Welthandelszentrums waren während ihres Baus tatsächlich New Yorks ungeliebte Kinder. Monstrositäten, die man mit Aktenschränken verglich. Ob es wirklich Philippe Petits illegaler Drahtseilakt war, der die New Yorker Herzen für die Türme öffnete, ist schwer nachzuweisen. Aber die Legende ist zu schön, als dass man sie nicht glauben könnte, oder wollte. Dass Petit wegen seines Vergehens zu einer Drahtseil-Vorstellung für Kinder verurteilt wurde, lässt schon tiefer in die Seele von New York blicken, und bestärkt den Verdacht von Petits Einfluss. Als er zuvor eine ähnliche Aktion zwischen den Türmen von Notre-Dame vollzog, feierte ihn die gesamte Weltpresse, lediglich die Franzosen prangerten den Stunt an. Was den Künstler äußerst erzürnte. Dass er hingegen für seine Nummer in New York von der amerikanischen Presse bejubelt wurde, dürfte für den gebürtigen Franzosen ein Punkt gewesen sein sich dafür zu entscheiden, in Amerika zu bleiben. Schließlich ist Philippe Petit kein einfacher Künstler, sondern einer, der selbstbewusst seine Anerkennung einfordert.
Robert Zemeckis war immer ganz vorne dabei, wenn es um die Verwendung neuer Film-Technologien ging. Besonders die digitale Entwicklung hat es ihm angetan. Zuerst bringt er einen gezeichneten Hasen und einen lebensechten Detektiv zusammen, dann lässt er einen ganzen Film hindurch Goldie Hawn mit riesigen Durchschuss im Bauch herumlaufen, später nahm er Gary Sinise die Beine ab und stellte Tom Hanks an die Seite von John F. Kennedy. Als Motion-Capture erfunden wurde, war Zemeckis mit POLAREXPRESS der erste, und setzte bei BEOWULF mit demselben Verfahren gleich in 3D eins drauf. Da nimmt sich THE WALK eher unspektakulär aus. Zemeckis sah sich eher Vorwürfen ausgesetzt, warum er gerade einmal sieben Jahre nach der Oscar prämierten Dokumentation MAN ON WIRE, Philippe Petits Geschichte schon wieder aufkochen wollte. Warum es sogar dringend erforderlich war, das zeigt uns Robert Zemeckis in den letzten zwanzig Minuten von THE WALK.
Das Drehbuch von Zemeckis und Christopher Brown nimmt sich sehr viel Zeit, Petits Vorgeschichte zu erkunden. Seine Anfänge als Straßenartist, wie er seinen Mentor Papa Rudy trifft, und er Annie kennenlernt. Aber immer nebenher lebt auch das Phantom der neu errichteten Zwillingstürme. Dass sich auch die Inszenierung so viel Zeit lässt, den Hintergrund des Künstlers zu beleuchten, ist weder Zeitschinderei oder langatmig. Der Zuschauer lernt Philippe Petit wirklich kennen. Ein Getriebener, dem man eine starke Portion Egoismus vorwerfen kann. Dennoch fällt es schwer, diesem Charakter in irgendeiner Weise böse zu sein. Petits egomanisches Verhalten bezieht sich nicht auf seine Figur selbst, sondern fokussiert sich auf seinen unerschütterlichen Traum. In den ersten 80 Minuten funktioniert THE WALK eher als Drama. Aber ein Drama bei dem Zemeckis schon hier mit optischen Spielereien überrascht und der Erzählung einen erfrischenden Fluss verleiht. Seien nur erwähnt, die immer mehr verschwindenden Seile als Philippe sich das Hochseil selbst beibringt. Oder die Kamera, welche die Perspektive hinter eine Zeitung wechselt, die für den Zuschauer transparent wird.
Dann folgt ein Teil, der sehr spannende Anleihen beim Thriller, speziell bei Räuber-Filmen nimmt. Schließlich muss das um Petit gescharte Team jede Menge Material auf die Dächer der Türme bringen. Seilzug, Spannvorrichtungen, Balancierstange, usw. Dafür bleibt dem Team ein extrem schmales Zeitfenster, weil der »Coup« beginnen muss, bevor die ersten Arbeiter wieder auf die Baustellen kommen. Aber auch die patrouillierenden Wachmänner machen es den auf die zwei Türme aufgeteilten Teams nicht einfach. Hier beginnt die Inszenierung bereits mit den ersten Andeutungen, was den Zuschauer im Finale erwarten dürfte. Immer wieder scheint der »Coup« an unerwarteten Hindernissen zu scheitern. Sehr spannend inszeniert, mit optischen Leckerbissen, die zu einer Herausforderung für Zartbesaitete werden. Und zu den ersten Strahlen der aufgehende Sonne schließlich der »Coup« selbst. 42 Meter stehen die Türme an dieser Stelle auseinander, aber mit einem Abgrund von 417 Metern. Und nun fordert Zemeckis selbst die Hartgesottenen heraus.
Es gibt Gerüchte, Zuschauer hätten sich bei der Premierenvorstellung übergeben. Das sind aber nur Aussagen eines Reporters, die nie wirklich bestätigt wurden. Es wäre aber auch nicht im Sinne des Filmemachers gewesen, den Zuschauer über die Grenzen zu stoßen. Zemeckis wollte genau das erreichen, was die Doku MAN ON WIRE nicht konnte. Er wollte das Publikum mit nach oben nehmen, und er wollte den »Coup« aus der optischen Perspektive von Petit erleben lassen. Und das ist ihm in vollem Umfang gelungen. Obwohl die Szenen auf nicht schwindelfreie Personen durchaus sehr belastend wirken, sind die Effekte nicht um des Effektes willen gemacht. Es ist schließlich nicht nur der Blick in den Abgrund, sondern auch Joseph Gordon-Levitts charismatisches Spiel, welches den Kern verbindet. Petit hatte ein Ziel, und so geht der Charakter auch damit um. Er hat seinen Traum erfüllt, und nun wo er auf dem Seil zwischen den Türmen steht, ist alles andere irrelevant. Selbst die Aussicht auf einen Absturz.
Dem Eingreifen der Polizei ist es zu verdanken, dass Petit nach dem ersten Überqueren eben nicht einfach vom Seil geht. Auf beiden Dächern der Türme stehen Beamte, um ihn dingfest zu machen. Das verleitet den Hochseilartisten dazu, die 417 Meter insgesamt sechs Mal zu überqueren. Das ist für den Zuschauer extrem nervenaufreibend, aber es erklärt auch wieder, warum Zemeckis sich soviel Zeit ließ, Petits Vorgeschichte und Motivation zu beleuchten. Es macht für diesen Charakter einfach Sinn. Es folgt alles einer inneren Logik. Der Wahnsinn hinter dem Akt ist ein rein menschlicher.
Mit THE WALK hat Robert Zemeckis erneut bewiesen, dass überraschendes und berührendes Kino immer noch möglich ist. Dass die moderne Technik nicht einfach nur Schauwerte erzeugen, sondern man mit diesen Schauwerten auch tatsächlich noch narrativ erzählen kann. Immer wieder hat Zemeckis das Herz der Zuschauer getroffen. FORREST GUMP oder CASTAWAY. Sie konnten nur so umgesetzt werden, weil die technischen Voraussetzungen dafür gegeben waren. Aber auch genau aus diesem Grund haben die Filme ihr Publikum auch derart berührt. Den Effekt erzielen ist die eine Sache. Mit dem Effekt emotional zu arbeiten, eine ganz andere.
Dabei gelingt es Zemeckis erstaunlicherweise, die Zwillingstürme wieder weit hinter den 11. September zu rücken. Ihnen einen natürlichen Bestand zu verleihen, sie ohne jeden Makel zu inszenieren. Und das ist ein besonderer Verdienst an der Inszenierung, dass sie es schafft, das eigentliche Schicksal einfach einmal auszublenden. Weil THE WALK zu einem Gegenentwurf jener Filme wird, welche das World Trade Center zu einem Symbol von Zerstörung und Terror machen. So beweist Robert Zemeckis erneut, dass Kino gerade wegen aller technischen Gimmicks immer noch sehr spannend und unterhaltend inszeniert werden kann. Die Magie des Kinos. Das ist durchaus ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT, aber findet auch einen würdigen Nachfolger in THE WALK.
THE WALK
Darsteller: Joseph Gordon-Levitt, Ben Kingsley, Charlotte Le Bon, James Badge Dale, Clément Sibomy, César Domboy, Ben Schwartz, Benedict Samuel, Steve Valentine u.a.
Regie: Robert Zemeckis
Drehbuch: Robert Zemeckis, Christopher Brown
Kamera: Dariusz Wolski
Bildschnitt: Jeremiah O’Driscoll
Musik: Alan Silvestri
Produktionsdesign: Naomi Shohan
123 Minuten
USA 2015
Promofotos Copyright Sony Pictures Releasing GmbH