Im Schnitt macht Jean-Pierre Jeunet alle vier Jahre einen Film. Bunte Filme, abstrakt, märchenhaft, aber immer mit einem düsteren Schuss. In seinem siebten Langfilm mit dem irreführenden Titel DIE KARTE MEINER TRÄUME, ist das düstere Moment der Tod des Zwillingsbruders vom zehnjährigen T.S..
Die Verschrobenheit von T.S. ist seine Intelligenz, alles muss er kartographieren, oder er arbeitet an wissenschaftlichen Experimenten. Eigentlich wäre da T.S. bei seiner Familie auf der Copperpot Ranch in Montana bestens aufgehoben. Seine Schwester ist lediglich an Schauspielunterricht und an Miss America-Wettbewerben interessiert. Die Mutter hat sich in ihrer Insektenforschung verloren. Der Vater ist ein Cowboy ganz alter Schule, der, so meint T.S. in seinen Off-Kommentaren, 100 Jahre zu spät geboren wurde. Und dann ist da natürlich noch der Familienhund, der die meisten Macken auf sich vereint, zum Beispiel Blecheimer fressen. Aber T.S. Spivet ist trotz seiner überragenden Auffassungsgabe ein zehnjähriger Junge, und so fühlt er sich von allen missverstanden und ungeliebt, zudem er selbst die Welt noch nicht wirklich versteht. Dann erfindet T.S. auch noch das Perpetuum Mobile und soll vom Smithsonian Institute einen renommierten Preis überreicht bekommen. Ohne seine Familie zu informieren, beginnt T.S. kurzerhand eine abenteuerliche Reise nach Washington.
DIE KARTE MEINER TRÄUME ist neben GRAVITY ein Exempel, wie 3D tatsächlich funktioniert, und einen Film für den Zuschauer wirklich bereichert. Thomas Hardmeier hat fantastische Bilder erschaffen, aber auch ganz offensichtlich unter der gestrengen Vision des Regisseurs. Die weiten Landschaften und die Interieurs, Hardmeier bemüht überwiegend eine Weitwinkel-Optik, um den Zuschauer in den Film führen. Aber er zieht ihn nicht gewaltsam mit Effekten ins Geschehen, sondern geleitet ihn behutsam mit seinen extrem choreografierten Aufnahmen in T.S. Spivets Welt, in der jedes Bild wie eine nachgefärbte Postkarte wirkt. Optisch ist DIE KARTE MEINER TRÄUME ein kleines Filmwunder, und hier kommt Jeunet seiner AMELIE am nächsten. Mit dem nicht zu verleugnenden Vorteil von 3D.
Trotz seines tragischen Hintergrundes ist der Verlust des Zwillingsbruders, und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Familie, mit leichter Hand erzählt. Er ist erstaunlich witzig, ohne allerdings irgendwelche Sprüche oder komische Situationen zu bemühen. Jeunet erzählt nicht bedächtig, aber sehr ruhig, man soll sich auf den jungen T.S. einlassen können, nicht nur auf seine Abenteuer, sondern vor allem auf seine Gedanken. Melancholie schwingt in der Handlung immer mit. So bestreitet er seine erste Etappe in einem Campingwagen, der verkehrt auf einem Eisenbahnwaggon transportiert wird, deswegen hat T.S. ständig das Gefühl, wieder zurück zu fahren, anstatt sich seinem Ziel Washington anzunähern. Aber der Film ist nicht nur die Geschichte eines Jungen, der seinen Weg sucht, sondern auch eine durchaus komplexe Abhandlung wie eine Familie funktioniert. Wie sich seine gegensätzlichen Eltern jemals finden und verlieben konnten, bleibt für T.S. ein unlösbares Rätsel, auch wenn er in der Lage ist ein Perpetuum Mobile zu konstruieren.
HELLBOY und HARRY POTTER hat Jeunet angeboten bekommen, aber die großen Studios hätten ihm die kreative Freiheit genommen. Bei ALIEN 4 hat es einigermaßen geklappt, dass der Regisseur seine Vorstellungen ausleben konnte. DIE KARTE MEINER TRÄUME ist ein amerikanischer Film durch und durch, aber eine französisch-kanadische Produktion. Und das ist am Resultat gesehen eine weise Entscheidung, weil amerikanische Studios bekanntermaßen nie die versprochenen Freiräume einhalten. So kann sich der Zuschauer an einem leichten, aber einnehmenden Abenteuer erfreuen, welches mit exzellenten Darstellern unterhält. Der harte Cowboy mit dem weichen Kern hätte mit Callum Keith Rennie nicht idealer besetzt sein können. Selbst Helena Bonham Carter überzeugt wegen ihrer zurückhaltenden Sensibilität, und diesmal nicht mit überdrehtem Auftreten. Natürlich fehlt auch nicht Jeunets Dauer-Mime Dominique Piñón, der in allen Filmen des Regisseur auftritt. Doch steht und fällt das Schauspiel-Ensemble mit seinem Hauptdarsteller, und das steht mit Leinwand-Newcomer Kyle Catlett. Catlett sieht meistens nur traurig oder verwirrt in die Kamera, aber er ist ein sehr einnehmender Sympathieträger mit Präsenz.
DIE KARTE MEINER TRÄUME könnte perfektes Märchenkino mit Tiefgang sein, hätte sich Jean-Pierre Jeunet mehr um die letzte Viertelstunde bemüht. Hier verliert der Film etwas seine Kontinuität und droht ins Melodram abzurutschen, wenn die Sequenz im Fernsehstudio allzu sehr nach amerikanischen Standards inszeniert ist. Aber insgesamt dürfte es wenig Zuschauer geben, die keinen Gefallen an den detailverliebten Einfällen und dem künstlerischen Gesamtkonzept finden. Traurig ist nur, dass es nun wieder vier Jahre dauert, bis ein neuer Film von Jean-Pierre Jeunet das Kino bereichern wird. Denn es ist sicher, dass Jeunet nicht nur zu den eigenwilligsten, sondern auch visionärsten Regisseuren des Gegenwartkinos gehört.
DIE KARTE MEINER TRÄUME 3D – THE YOUNG AND PRODIGIOUS T.S. SPIVET
Darsteller: Kyle Catlett, Judy Davis, Callum Keith Rennie, Helene Bonham Carter, Niamh Wilson, Jakob Davies, Rick Mercer, Dominique Piñón u.a.
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Drehbuch: Jean-Pierre Jeunet, Guillaume Laurant, nach Reif Larsen
Kamera: Thomas Hardmeier
Bildschnitt: Herve Schneid
Musik: Denis Sanacore
Produktionsdesign: Aline Bonetto
105 Minuten
Frankreich-Kanada 2013
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