Europa hat gerade dafür gestimmt, das Internet zu ruinieren, so ziemlich alles zu überwachen und große Teile unserer Kommunikation zu zensieren.
[Anmerkung: bei diesem Text handelt es sich um die Übersetzung eines Artikels von Cory Doctorow auf BoingBoing vom 12. September 2018]
Lobbyisten für »Urheber« haben sich mit den großen Unterhaltungsfirmen und den Zeitungsverlegern zusammengetan und schafften es, dass die neue [europäische] Urheberrechtsdirektive heute morgen mit Haaresbreite verabschiedet wurde. Es handelt sich um einen Akt äußerst gewissenlosen Handelns; der Schaden für Künstler die von ihrer Kunst leben wird nur noch übertroffen vom Schaden für jedermann der das Internet für alles andere nutzt.
Hier ist das, was die EU heute morgen beschlossen hat:
- Uploadfilter: Alles was du postest, von kurzen Textausschnitten über Fotos, Audio, Video bis hin zu Programmcode und einer Menge mehr, wird von Copyright-Bots überwacht werden, die auf den großen Plattformen laufen. Die werden deine Posts mit Datenbanken voller »urheberrechtlich geschütztem Material« abgleichen, die zusammengestellt werden, um so ziemlich jedem zu ermöglichen eine Urheberschaft auf alles mögliche zu behaupten, und die dafür tausende der von Ihnen verwerteten Werke gleichzeitig hochladen werden. Alles was vermeintlich einen Treffer in diesen Copyrightmaterial-Datenbanken erzeugt, wird sofort blockiert und du wirst einen Moderator auf diesen Plattformen anbetteln müssen, sich deinen Fall anzusehen und deinen legalen Inhalt wieder freizuschalten.
- Link Tax: du darfst nicht auf eine Nachrichtenstory verlinken, sobald dein Linktext mehr als ein einzelnes Wort der Überschrift des Artikels enthält. Die Plattform die du nutzt, muss zuvor eine Lizenz von der Newsseite erwerben, und Newsseiten können diese Lizenzen verweigern – das gibt ihnen die Möglichkeit auszuwählen, wer sie kritisiert und es verhindert, dass man über ihre Nachrichten debattieren kann.
Hier sind die Punkte gegen die sie sich ausgesprochen haben:
- Die Panoramafreiheit: Das Recht, Fotos von öffentlichen Orten zu posten, wenn sich urheberrechtlich geschützte Werke auf diesen Bildern befinden, also beispielsweise Stockfotos auf Außenwerbung, öffentliche Kunstwerke oder auch nur T‑Shirts, die copyrightgeschützte Motive zeigen. Sogar das Posten von Fassaden muss vorher mit deren Architekten geklärt werden (und nicht etwa mit den Besitzern der Gebäude).
- Ausnahmen für nutzergenerierten Content: Das Recht, kleinste Ausschnitte von Werken zu verwenden, um Memes, oder andere kritische / umgestaltende / parodistische / satirische Werke zu erstellen.
Nachdem all das jetzt das EU-Parlament passiert hat, wird es im Geheimen hinter verschlossenen Türen von nationalen Regierungen [und EU-Institutionen] überarbeitet (der sogenannte »Trilog«) und dann wird im nächsten Frühjahr erneut darüber abgestimmt; danach geht das an die Regierungen der europäischen Staaten, die es vor 2021 in nationale Gesetze umsetzen müssen. All das sind nochmals Chancen, um diese Gesetze zu verhindern, aber das wird erheblich schwerer werden, als es der bisherige Kampf war. Weiterhin dürfen wir erwarten, dass es Klagen vor den europäischen Gerichten zu den neuen Regeln geben wird, denn es ist nach europäischen Gesetzen schlichtweg nicht legal, einfach jedermann ständig zu überwachen, auch dann nicht, wenn man es tut, um »Urheberrechte zu schützen«.
Währenddessen: Was für eine Katastrophe für Kreative! Wir werden nicht nur mit der Tatsache leben müssen, dass unser eigenes, unabhängig erschaffenes Material willkürlich von überaktiven Filtern zensiert wird, es wird weiterhin für uns unmöglich sein, das ohne die Mithilfe großer Unterhaltungsfirmen wieder rückgängig zu machen. Diese Firmen werden nicht freundlich mit ihren neuen Möglichkeiten umgehen, uns zu etwas zwingen zu können (Einnahmen aus Unterhaltung sind zwar gestiegen, aber die Anteile, die an die Urheber ausgeschüttet werden, sind zurückgegangen: falls du denkst, dass das nichts damit zu tun hat, dass es nur vier oder fünf maßgebliche Firmen für jeden Sektor der Unterhaltungsbranche gibt, dann hast du nichts über Ökonomie verstanden).
Und selbstverständlich hat nur ein verschwindend geringer Anteil des Materials auf den Plattformen [im Netz] mit Unterhaltung zu tun. Deine Geburtstagswünsche, deine Totenanzeigen, deine Bilder von niedrigsten Amateurligen, deine politischen Aussagen und Diskussionen, deine Hochzeitsvideos oder deine Online-Tutorials werden ebenso durch die Filter dieser Back-Box-Algorithmen geschickt – und du wirst dich hinter all den anderen anstellen müssen, die ebenfalls einen Moderator der Plattformen ansprechen wollen, damit sich jemand deinen Fall von falscher Filterung anhört.
Die Verantwortlichen der Unterhaltungsindustrie, die sagen, dass allumfassende Überwachung und algorithmische Zensur notwendig sind, um Urheber zu schützen, haben mehr dazu beigetragen, die Urheberrechte zu diskreditieren, als alle Piratenseiten des Internets zusammen. Die Menschen mögen ihr Fernsehen, aber sie nutzen ihr Internet für so viel mehr.
Das ist genau wie rechte Politiker [in den USA, Anm. d. Übersetzers], die seit 40 Jahren behaupten, Straßen, Feuerwehr, Krankenversicherung, Bildung und soziale Sicherheit, seien »Sozialismus«, und die so eine Generation von Bürgern erschaffen haben, die nicht verstehen, warum sie keine »Sozialisten« sein sollten. Die Urheberrechts-Extremisten haben uns erzählt, dass ein freies Internet dasselbe sei wie Piraterie. Eine Generation von Personen die sich voller Stolz als Piraten sehen, kann nicht mehr weit entfernt sein. In dem Moment, in dem jemand [wie die Verwerterindustrie] Urheberrechtsverletzungen zu einer politischen Handlung macht, zu einem Ausdruck für Freiheit, hat derjenige sein eigenes künstlerisches Todesurteil unterschrieben.
Diese Idiotie war nur möglich weil …
- … niemand der daran beteiligt ist das Internet versteht: Sie nehmen an, dass nur weil Facebook ihre Fotos mit den Namen ihrer Freunde taggt, auch jemand alle jemals aufgenommenen Fotos überprüfen und so herausfinden kann, welche davon Urheberrechte verletzen.
- … die Rechteinhaber diese Massenüberwachung damit verbunden haben, ein paar Millionen von den Internetriesen an Gesellschafter von Zeitungen zu verschieben und damit 100% positive Berichterstattung [zum Leistungsschutzrecht] sicher zu stellen (ich schäme mich insbesondere dafür, dass Journalisten diese Idiotie auch noch unterstützt haben).
Und was passiert jetzt? Nun, die größte Hoffnung besteht möglicherweise in einer Kombination aus Klagen gegen diese Gesetze, zusammen damit, ein Wahlkampfthema für die Europawahl 2019 daraus zu machen. Kein Mitglied des europäischen Parlaments wird Werbung für seine Wiederwahl mit den Worten betreiben: »Schaut mal, ich bin für dieses neue Urheberrechts-Ding verantwortlich!« Aus Erfahrung weiß ich, dass es leider kaum jemanden interessiert, was sein Gesetzgeber mit dem Urheberrecht tut.
Aber: auf der anderen Seite wird es garantiert mehrere zehn Millionen Wähler geben, die definitiv gegen Kandidaten stimmen werden, die »das Internet kaputt gemacht haben«. Es ist sehr wichtig für Wähler, dass das Internet nicht kaputt gemacht wird – und die Bevölkerung ist relativ gut darin, abstrakte technische Konzepte ansatzweise zu verstehen, wenn diese damit zu tun haben, das Internet kaputt zu machen (87% der Amerikaner haben a) schon mal von Netzneutralität gehört und b) unterstützen diese).
Anmerkung des Übersetzers: An dieser Stelle schätzt Cory Doctorow meiner Ansicht nach die Internetkompetenz der Europäer und insbesondere der Deutschen leider deutlich zu hoch ein.
Vor einiger Zeit war ich mal in einen großen politischen Kampf involviert, bei dem es unter anderem darum ging, dass alle Fernsehzuschauer ein kleines Gerät hätten kaufen müssen, um weiter fernsehen zu können. Politiker waren entsetzt von diesem Vorschlag. Sie wussten, dass die Senioren, die immer zu Wahlen gehen, auch eine Menge TV schauen, und es absolut nicht wohlwollend aufgenommen hätten, wenn jemand solche Art von Schindluder mit ihrem Lieblingsmedium treibt.
Wir erreichen so einen Punkt gerade auch mit dem Internet. Die Gefahr eines regulierten Internets ist, dass heutzutage so ziemlich jede Aufgabenstellung dieses Internet involviert, dass jede schlecht durchdachte »Lösung« Wellen durch das gesamte Netz schlägt und dabei massiven Kollateralschaden erzeugt; die Macht eines regulierten Internets kann aber auch sein, dass ständig, jeden Tag, noch viel mehr Personen damit befasst sind, das Internet NICHT kaputt zu machen, aus ganz persönlichen, wichtigen Gründen.
Das ist kein Kampf, den wir jedesmal gewinnen werden. Das Internet ist das Nervensystem dieses Jahrhunderts, es verbindet alles was wir tun. Es ist ein unwiderstehliches Ziel für Tyrannen, Zensoren und Idioten mit guten Vorsätzen. Selbst wenn die EU heute früh anders gestimmt hätte, würden wir dennoch morgen schon wieder kämpfen müssen, weil es immer irgendwelche halbintelligenten aber ganz gefährlichen Unternehmen geben wird, die irgendeinen völlig absurden Weg vorschlagen, ihre engstirnigen Probleme zu lösen, mit Lösungen, die Milliarden von Internetnutzern weltweit erheblich benachteiligen.
Das ist aber ein Kampf dem wir uns vollständig widmen werden. Heute haben wir einen schrecklichen, erdrückenden Schlag erlitten. Unser nächster Zug wird es sein, den Personen, die unter der ignoranten Indifferenz der Unterhaltungsindustrie gegenüber den Konsequenzen ihrer strunzdummen Ideen zu leiden haben werden, deutlich zu erklären, wie sie in diese Situation gekommen sind. Um sie auf die Straßen und in die Wahlkabinen zu bekommen, und sie zu motivieren, mit uns in den Kampf zu ziehen.
Cory Doctorow
Cory Doctorow ist ein kanadischer Science-Fiction-Schriftsteller und Aktivist in Sachen neue Medien, Internet, Copyright-Liberalisierung und Privatsphäre. Er unterstützt Creative Commons, hat als European Affairs Coördinator für die Electronic Frontier Foundation gearbeitet und dabei geholfen die Open Rights Group aufzubauen. Er war als Urheberrechtsfachmann Delegierter der WIPO, der UN-Agentur welche die weltweiten Copyright-Abkommen ausarbeitet. Und er ist ein Verfechter von Bürgerrechten im Netz.Ich weise auf all das nochmal hin, falls jemand kommentieren möchte, dass der Typ ja eh keine Ahnung hat. Doch, hat er, und jede Menge davon.
Anmerkung des Übersetzers: Dieser Text erschien ursprünglich vorgestern auf dem US-Blog Boing Boing, das Cory Doctorow mit einigen Mitstreitern betreibt. Der Text steht unter CC BY-NC-SA, somit steht auch diese Übersetzung unter derselben Lizenz.
Ach ja:
Zieht mit uns in den Kampf!
Bild Cory Doctorow: von Jonathan Worth, aus der Wikipedia, CC BY-SA
»um Haaresbreite« kann man diese Abstimmung nicht nennen. Es ging 438:226 aus. Das ist mehr als deutlich ;-((
Sich an dieser Formulierung aufzuhängen … ich halte das für eine Nebensächlichkeit.
Aber erneut gilt: Wer hat uns verraten?
p.s.: Den Text hat er ja kurz nach der Abstimmung verfasst, vielleicht kannte er die Zahlen zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Martin Sonneborn hat eine Aufstellung darüber gemacht, welcher Politiker ob und wie abgestimmt hat – merken und bei den Europawahlen im Hinterkopf behalten:
https://www.martinsonneborn.de/wp-content/uploads/2018/09/copyrightvote.jpg
Nicht nur bei den Europawahlen.
Und wer immer noch glaubt, dass die Grünen eine Netzpartei sind, der sollte sich ansehen, dass bei denen eine Mehrheit für Contentfilter und Link Tax gestimmt hat.