TYLER RAKE: EXTRACTION – seit 24.04.2020 bei Netflix
Die großen Hollywood Studios müssen unweigerlich klein beigeben und anerkennen, dass sich einer ihrer angeblich größten Gegner gleichwertig neben ihnen platziert hat. Klug durchdachte Streaming-Dienste waren als direkter Angriff auf die klassische Form der Kinoauswertung verstanden worden. Dementsprechend war der Aufruhr, als mit Alfonso Cuaróns ROMA die erste Netflix-Produktion ins Rennen um den Oscar geschickt wurde. Lautstark wetterte Steven Spielberg gegen diesen vermeintlichen Frevel, nur um dann erleben zu müssen, dass der alte Weggefährte Martin seinen nächsten Film THE IRISHMAN ebenfalls bei Netflix machte. Doch am erfolgreichsten tut sich der Streaming-Dienst beim Testosteron-Kino hervor. Atemberaubend gut mit J.C. Candors TRIPLE FRONTIER, verblüffend schlecht mit Michael Bays 6 UNDERGROUND. Aber durchweg Aufmerksamkeit erregend erfolgreich. So wie Sam Hargraves EXTRACTION.
Hargrave ist eigentlich Stuntman und Stunt-Coördinator, spätestens seit den MCU-Produktionen aus dem Geschäft nicht mehr wegzudenken. Joe Russo ersann mit seinem Bruder Anthony, in kreativer Zusammenarbeit mit anderen, die Graphic Novel CIUDAD, noch bevor die Brüder mit dem zweiten CAPTAIN AMERICA ins Marvel Cinematic Universe einstiegen. Die Wege führten also zusammen und CIUDAD bot sich als das ideale Projekt an, um losgelöst von den Restriktionen des ganz großen Hollywood der kreativen Laune freien Lauf zu lassen. Was als Schwarzenegger- oder Willis-Vehikel angedacht war, wurde dann auch noch zum Chris Hemsworth Projekt. Also: irgendwie Familientreffen. Dass dann auch noch unter anderem Henry Jackman, Komponist von zwei CAPTAIN AMERICA Filmen, die Musik schreiben würde, hört sich nicht gerade nach Zufall an.
EXTRACTION ist wahrlich kein tiefsinniger Film, mit einem sehr dünnen Handlungsgerüst. Fast prophetisch reihen sich bekannte Story-Element aneinander. Dialogpassagen sind in ihren Aussagen meist vorhersehbar, und auch nicht sonderlich raffiniert. Und doch hat EXTRACTION etwas, dass ähnlich konzipierte Filme nicht aufbringen: Das ist das spürbare Vertrauen in die eigene kreative Umsetzung, und die Lust am bewussten Spiel mit eigentlich aufgebrauchten Versatzstücken. Chris Hemsworths Tyler Rake ist ein durch Selbstmitleid und Orientierungslosigkeit abgestürzter Söldner, der in Bangladesh den entführten Sohn eines Drogenbarons aus den Händen eines anderen Drogenbosses befreien soll. An Rakes Seite ein loyales Unterstützerteam, die einen begleitende Élite-Soldaten und die anderen observierende High-Tech-Spezialisten. Kann es Tyler Rake schaffen, den jungen Ovi durch das feindliche Territorium zurück zu seinem Elternhaus zu bringen?
Wirklich Freude an EXTRACTION bereitet allein die Tatsache, dass er nie versucht, aber auch nie vorgibt, etwas anderes zu sein, als explosive, Testosteron-getriebene Unterhaltung. Fallen doch einmal die ein oder anderen tiefgreifenden Sätze, dann wirken diese aber keineswegs forciert, banal oder aus dem Kontext. So wie Ovis Bemerkung über die eigentliche Abscheu gegenüber seinem Vater, bezüglich der Männer die in seinem Namen sterben müssen. Im Allgemeinen weckt Sam Hargraves Film angenehme Erinnerungen an Tony Scotts MAN ON FIRE und Alfonso Cuaróns CHILDREN OF MEN. Wie eine Verbeugung vor dem Plot des einen Films mit dem selbstlosen Bodyguard, der sich vorbehaltlos für seinen jungen Schützling einsetzt, und dem anderen, mit seinen unerreichten Action-Extravaganzen.
Der Film beginnt mit einer Action-Sequenz und führt den Zuschauer bereits zum Ende der Geschichte. Der Ton ist gesetzt und das grafische Potential liegt offen. Das wirft umgehend die Frage auf, ob der Film mit diesem Einstieg seine pulsierende Energie behalten kann oder ihm letztendlich doch, wie bei so vielen ähnlichen Filmen, einfach die Luft ausgeht. Dem sei beruhigt die Hand auf die Schulter gelegt: Mein Sohn, es wird noch viel wilder. Jede Adrenalin-Sequenz ist inszeniert als wäre sie an einem Stück gedreht, aber das Meisterstück ist zweifellos die Verfolgungsjagd in der ersten Hälfte. Zwölf Minuten dauert der Wahnsinn von Autoverfolgung, Häuserkampf über zwei Stockwerke, nochmal ins Auto, Messerkampf Mann gegen Mann, bis der Zuschauer kaum noch Luft bekommt. Die Hand-Kamera wechselt ununterbrochen die Perspektive zwischen der Sicht von Angreifer und Hemsworth und seinem Schützling Jaiswal. Selbst dem Sprung über eine Häuserschlucht folgt die Kamera. Zehn Tage plante, probte und filmte das am Ende vollkommen ausgelaugte Team an der Sequenz. Regisseur Hargrave verweigert die Auskunft über die Anzahl der tatsächlichen Schnitte, fordert allerdings die Zuschauer heraus, diese zu finden.
Chris Hemsworth sagte bei Jimmy Kimmel zufrieden, aber sichtlich in schmerzlicher Erinnerung, wie anstrengend es war, von Take zu Take immer wieder den richtigen Anschluss zu finden. Es blieb bei den Schauspielern, sich Bewegungen und Körperhaltung für die Übergänge zu merken. Das Ergebnis ist es durchweg wert gesehen zu werden. Für ein Regie-Debüt ist Sam Hargrave eine herausragende Achterbahnfahrt gelungen, bei der man am Ende sehr tief durchatmet, aber den Kick wirklich genossen hat.
Das Produktionsdesign nutzt natürlich ganz unverschämt die heruntergekommen Ecken von Ahmedabad (gedreht wurde in Indien). Die Drehorte waren offensichtlich billig in der Ablöse und erforderten keinen Mehraufwand an Kulisse, oder eventuellen Renovierungen. Mit seinen Sets kann EXTRACTION optisch keine Preise gewinnen, und sieht auch immerzu nach offensichtlich günstiger Lösung aus. Am Ende wird aber auch dies den Spaß am Adrenalin-Rausch nicht mindern. Es muss wirklich nicht immer Anspruch sein, wenn es in so ein Gewand gehüllt ist.
TYLER RAKE: EXTRACTION
Darsteller: Chris Hemsworth, Golshifteh Farahani, Rudhraksh Jaiswal, Randeep Hooda, Pankaj Tripathi, Shataf Figar, David Harbour u.a.
Regie: Sam Hargrave
Drehbuch: Joe Russo, nach seiner Graphic Novel
Kamera: Newton Thomas Sigel
Bildschnitt: Ruthie Aslan. Peter B. Ellis
Musik: Henry Jackman, Alex Belcher
Produktionsdesign: Philip Ivey
116 Minuten
USA 2020
Promofotos Copyright Netflix