Vincent MacKenna ist laut, ungehobelt und egozentrisch. Vincent hält nicht viel von Hygiene, ignoriert seine Schulden, und lässt bestimmt nicht die Finger vom Alkohol. Und wenn er einen Apfel am Obststand klaut, dann nur, um ihn irgendwo gegen die Wand zu schmeißen. Vincent ist offen und direkt, und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Vincent regt sich nicht auf, sagt dafür was und wie er es denkt. Er ist ein äußerst unangenehmer Mensch. Für seinen kaputten Zaun, den er selbst im Suff überfuhr, macht er gleich seine neue Nachbarin verantwortlich, die von Vincents Charakter so perplex ist, dass sie bereitwillig für den Schaden aufkommt. Wenn man also diese Figur mit dem verheißungsvollen Namen Bill Murray in Zusammenhang bringt, dann ist das eine sichere Wette. Keine Wette die Vincent gefallen würde, weil die Quote sehr niedrig wäre. Früher, da hätte Walter Matthau so eine Rolle treffsicher verkörpert, den Unsympath, den man einfach liebhaben möchte. Und Walter Matthau hat solche Rollen gespielt, sogar meisterlich, wie in EIN REIZENDER FRATZ. Irgendwie muss Filmautor Theodore Melfi genau diese Art von Film und Darsteller im Sinn gehabt haben, als er das Drehbuch verfasste. Und wenn man den Film etwas eingehender betrachtet, dann hat er tatsächlich diese Atmosphäre des altbekannten, nichts, was man nicht schon des Öfteren gesehen hätte.
Melfis Drehbuch und Regie folgen einer simplen Struktur: Er lässt sich nicht auf künstlerische Spielchen des Independent-Kinos ein, und versucht auch nicht mit überraschenden Wendungen etwas Neues zu erzählen. Das macht ST. VINCENT leicht vorhersehbar, allerdings auch spannend, weil der Zuschauer letztendlich in hoher Erwartungshaltung ist, wie Vincent seine misslichen Lagen meistern wird. Gerade als die in Scheidung lebende Maggie mit ihrem zwölfjährigen Sohn Oliver neben Vincent einzieht. Oliver ist ein kluger Kopf, der sich stets sehr gewählt und extrem höflich ausdrückt. Genau das richtige Opfer für einen wie Vincent. Doch das Schicksal meint es anders; als Oliver einen Babysitter braucht, und Vincent die Gelegenheit wahrnimmt, um Maggie mit ordentlich Stundenlohn abzuzocken. Beide scheinen Verlierer, nur hat der eine ein paar Jahrzehnte mehr Lebenserfahrung. Als der schmächtige Oliver Beute der Bullys in der Schule wird, beginnt für ihn der Ernst des Lebens, und die harte Ausbildung unter Vincents Fittichen. Dazu gehört nicht nur der perfekte Aufwärtshaken, sondern auch der Zeitvertreib in der Bar, ebenso wie das Wetten auf der Rennbahn. Nicht zu vergessen die Bekanntschaft mit der »Lady der Nacht« Daka, die Vincent stets zu bezahlten »Diensten« bereit liegt.
Wirklich neu und überraschend ist ST. VINCENT wahrlich nicht. Der Verlauf der Erzählung steht bereits mit dem Zusammentreffen von Oliver und Vincent. Allerdings sind es genau diese beiden, die aus dem Film etwas wirklich Besonderes machen. Auffallend ist da natürlich Jaeden Lieberher in seinem Spielfilmdebut, der mit gerade elf Jahren eine unglaublich einnehmende Präsenz besitzt, aber nicht nur durch nettes Aussehen überzeugt, sondern schauspielerisch zu glänzen versteht. Natürlich haben es die meisten Schauspieler schwer, gegen die immer irgendwie schräge Art von Bill Murray anzukommen. Und wenn man zukünftig einen Bill-Murray-Film definieren muss, dann mit ST. VINCENT. Aber Theodore Melfi inszenierte Lieberher und Murray nicht als allein stehende Charaktere, sondern setzt sie immer wieder als Symbiose in Szene. Zwei Figuren, die sich nicht wirklich brauchen, aber denen ihr Miteinander wirklich gut tut und hilft. Auch das mag man immer wieder im Kino erleben, doch gerade diese Kombination von zwei sich stützenden Darstellern, gerade in diesem Film, kann man durchaus als sehenswerte Besonderheit deklarieren. Und da kann auch ein zwölfjähriger Lieberher mit dem Urgestein Murray gleichziehen. Melfi tat gut daran, Melissa McCarthy in einer ihrer ernsthafteren, dafür besseren, Rollen nicht weiter in den Vordergrund gedrängt zu haben. Während Naomi Watts als Daka dem ignoranten Vincent immer wieder gewaschene Seitenhiebe verpassen darf, aber im Sinne der eigentlichen Geschichte ebenfalls spärlicher inszeniert wurde.
Wer aber jetzt glaubt, dass ihm als Zuschauer eine spaßige, bitterböse Nummernrevue präsentiert werden würde, der sollte gewarnt sein. Denn ST. VINCENT hat einen weit tieferen Gang, als nur das Aufweichen des selbstgefälligen Herzens von Vincent. Schließlich kommt der Titel des HEILIGEN VINCENT nicht von ungefähr. Eine Thematik, die sich vielschichtig durch den Film zieht. In Olivers Klasse fordert der katholische Lehrer Geraghty die Schüler heraus, die Attribute eines Heiligen auf Menschen der heutige Zeit zu übertragen. Und da ist Vincent MacKenna das perfekte Beispiel, wie scheinbar unmöglich das heutzutage geworden ist. Bei dieser sich immer wieder bildenden Intensität während der Handlung darf dann durchaus am Ende auch einmal die Tränendrüse beansprucht werden. Das ist weder sentimental noch kitschig, sondern hat dann Dank der konsequent erzählten Geschichte, mit seinen exzellenten Darstellern, etwas sehr Ehrliches.
ST. VINCENT
Darsteller: Bill Murray, Jaeden Lieberher, Naomi Watts, Melissa McCarthy, Chris O’Dowd, Terrence Howard, Kimberly Quinn u.a.
Drehbuch & Regie: Theodore Melfi
Kamera: John Lindley
Bildschnitt: Sarah Flack, Peter Teschner
Musik: Theodore Shapiro
Produktionsdesign: Inbal Weinberg
102 Minuten
USA 2014
Promofotos Copyright Polyband / Sony Pictures Filmverleih