Gibt es eigentlich noch Schwarz und Weiß? Vielleicht war die Welt es noch nie, und wir haben nur einen verklärten Blick auf die Vergangenheit, und die Menschheitsgeschichte. Doch man muss nur einen Blick 50 Jahre zurück werfen, als Truman Capote KALTBLÜTIG veröffentlichte, und damit eine literarische Sensation unter das Volk brachte. Es war die wie ein Roman geschriebene Aufarbeitung einer nicht fiktionalen Geschichte, in welcher die vierköpfige Cuttler-Familie von zwei Gangstern ermordet wurde, nur um an Geld zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt war Raubmord und Überfälle in Amerika lange nichts mehr Unbekanntes. Doch der Fall der Cuttlers sprengte einen bis dahin nie da gewesenen Rahmen, wo Unschuldige einfach nur wegen des Tötens umgebracht wurden. KALTBLÜTIG war ein Schock, er traf die Leser zutiefst. Das hat mit der Situation entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze zuerst wenig zu tun. Aber bei den Cuttlers waren die Grenzen von Schwarz und Weiß klar definiert und sichtbar. 50 Jahre später hat sich Amerika deutlich verändert.
Kate Macer ist eine idealistische FBI-Agentin. Den Kampf gegen den Drogenhandel und die Kartelle kann sie nur schwer verarbeiten, aber sie glaubt an sich, ihre Sache, und die Möglichkeit einer Veränderung. Eine perfekte Agentin für CIA-Operator Matt Graver, der Kate in sein Team holt, um als gemischte Einheit von diversen Bundesbehörden, den Kampf gegen das mexikanische Kartell von Manuel Diaz zu intensivieren. Die Grausamkeiten, die Kate auf ihrem Weg erleben muss, sind kaum zu verarbeiten. Doch während die Drogenschmuggler klare Ziele verfolgen und berechenbar agieren, verschwimmen in Kates neuem Team sämtliche Grenzen. Wer betrügt nun wen, wer benutzt wen? Der Zweck scheint die Mittel zu heiligen. Denn wenn der eine betrogen wird, heißt dann doch lange nicht, dass dies gegen die erklärten Absichten verstößt. Ist es tatsächlich verwerflich, wenn man benutzt wird, um daraus einen Erfolg zu erzielen?
Denis Villeneuve war zuletzt mit ENEMY und PRISONERS im Kino auffällig gewesen. Das sind die Zeugnisse, die nur positiv für SICARIO sprechen. Obwohl es der Franko-Kanadier hier schafft, die Atmosphäre noch einmal um einige Grad zu verstärken. SICARIO ist effektivstes Spannungskino, welches sich sehr selbstsicher zwischen dem modernen Kino von TRAFFIC oder L.A. CRASH und Sidney Lumets Klassikern bewegt. Die Bilder sind natürlich expliziter, die Gewalt vordergründiger. Aber jede Szene atmet die Atmosphäre von packendem Realismus und schockierender Authentizität. Zwei Begriffe, die sich zu doppeln scheinen. Doch der Realismus in SICARIO beschreibt den immer wieder furchteinflößenden Handlungsverlauf, während die Authentizität das für den Zuschauer ausgebreitete Szenario beschreibt. Wenn Josh Brolin milde lächelt, heißt es nicht, dass er zwangsläufig zu den Guten gehört. Wenn jemand wie Emily Blunt die Hauptrolle spielt, bedeutet dies nicht zwangsläufig ihr Überleben in der Geschichte. Letztendlich sind diese zwei Hinweise eine raffinierte Andeutung von Dingen die möglich sind. Aber nicht zwingend.
Von Anfang an macht Regisseur Villeneuve mit dem fantastischen Drehbuch von Debütant Taylor Sheridan klar, dass in diesem Film zu jedem Zeitpunkt alles mit jeder Figur passieren kann. Das erzeugt eine elektrifizierende Spannung, die über die gesamte Laufzeit anhält. Vielleicht ist ja sogar Emily Blunts Kate Macer eine der Bösen. Aber auch hier baut der Handlungsverlauf vor, weil es in dieser Geschichte definitiv kein Schwarz und Weiß gibt. Die Welt hat sich weiter gedreht. Am wahrscheinlichsten ist, dass man Gutes bewirkt, was nicht gleichzusetzen ist, dass man es im Guten tut. Es gibt eine Szene mit einer Eltern und ihren Kindern, in der alles möglich ist, und doch nichts so passiert, wie man es aus herkömmlichen Filmen vermuten möchte. Diese Sequenz definiert im Grunde das emotionale Grundgerüst von SICARIO. Was geschehen könnte, kann auch geschehen, aber nichts zwangsläufig.
Nach PRISONERS hat sich Villeneuve in Kameramann Roger Deakins erneut einen starken Verbündeten an die Seite gestellt. Es ist immer wieder erstaunlich, was Deakins über die Thematik an seine Bilder weitergeben kann. Er verwandelt einfache Landschaften in bizarre Gebilde von nicht zu erfassenden Konstrukten. Ein gewöhnliches Amerika wird zu einem kaum zu beschreibenden Fremdkörper. Dieser Fremdkörper ist eine Landschaft, in der die Guten genauso wie die Bösen agieren. Nur dass niemand die Definition von Gut und Böse vorgibt. Doch Deakins kann genauso genial die Atmosphäre einer Szene verdichten, wenn er einfach in die Perspektive seiner Figuren schlüpft, und aus deren Sicht die Handlung weiter fortspinnt. Die Coen-Brüder wussten schon immer, was sie an dem Ausnahme-Bildgestalter hatten. Villeneuve hat es spätestens bei PRISONERS begriffen.
Wie lässt sich SICARIO tatsächlich beschreiben, um ein größtmögliches Publikum zu erreichen? Schauen Sie ehrliches Kino, schauen Sie realistisches Kino, schauen Sie brutales Kinos. Genau das ist es eben nicht. Obwohl die Beschreibung wirklich zutreffend wäre. SICARIO ist eine wirkliche Überraschung, die dadurch funktioniert, dass man dem Zuschauer Möglichkeiten in der Entwicklung anbietet, aber diese stets zu brechen versteht. Als 1959 die vierköpfige Cuttler-Familie ermordet wurde, war das noch ein Verbrechen, welches durch seine Brutalität eine ganze Nation in Schock versetzte. Der Krieg um und mit Drogen, zwischen Drogenkartellen und Bundesbehörden hat nur 50 Jahre später eine Dimension erreicht, die nicht mehr schockiert. Es ist einfach nur abschreckend. Dafür ist SICARIO ein exzellent erklärendes Beispiel.
SICARIO
Darsteller: Emily Blunt, Benicio Del Toro, Josh Brolin, Victor Garber, Jon Bernthal, Daniel Kaluuya u.a.
Regie: Denis Villeneuve
Drehbuch: Taylor Sheridan
Kamera: Roger Deakins
Bildschnitt: Joe Walker
Musik: Jóhann Jóhannson
Produktionsdesign: Patrice Vermette
121 Minuten
USA 2015
Promofotos Copyright StudioCanal