Ohne Vorwarnung taucht hinter der Sonne der bisher unbekannte Planet MELANCHOLIA auf und bewegt sich auf die Erde zu. Die Wissenschaft definiert es als ein spektakuläres Ereignis, weil Melancholia an der Erde vorbeiziehen wird. In dieser Zeit feiert die mental labile Justine ihre Hochzeit, ausgerichtet von ihrer bodenständig pedantischen Schwester Claire. Zwei Personen als Sinnbilder einer Welt, in die man sich hineinarbeiten muss.
Mit viel Abstand und sehr ausgedünnt betrachtet ist MELANCHOLIA tatsächlich der klassische Katastrophenstreifen. Viele unterschiedliche Figuren fungieren als Stellvertreter bestimmter Menschengruppen und Charaktere innerhalb des geschlossenen Kosmos des Unglücks. Nur bietet der Autor und Regisseur keinen geschlossenen Kosmos. Es ist der offene Kosmos persönlich, der die Erde in ihrer Gänze verschlingen wird. Und das beginnt mit einer achtminütigen Eröffnungssequenz, die sprachlos macht. Die Bilder sind abstrakte Vorwegnahmen der nachfolgenden Handlung. Gleichzeitig ist die nachfolgende Handlung immer ein Resultat der vorangegangenen Vorausschau. Verwirrend? Was hast du erwartet?
Der Eröffnungsdialog ist eine Abfolge von Interpretationen, die nur in ihrer Darstellung Bezug auf die Ereignisse nehmen, diese aber nicht doppeln. Zu den schwermütigen Klängen von TRISTAN UND ISOLDEs Vorspiel steht diese gewaltige Bildfolge in keinem erkennbaren Zusammenhang. Das könnte insofern Sinn machen, da Richard Wagner beim Schreiben seiner Oper ebenfalls ein unüberschaubares Sammelsurium von Heldensagen und Mythen einfließen ließ. Diese acht Minuten sind ein stilistischer Hochglanz, mit extrem verlangsamten Aufnahmen und exzessiver Nachbearbeitung, die einen vor Begeisterung frösteln lassen.
Dass Manuel Alberto Claro nach dem fulminanten Auftakt die Kamera schließlich auf die Schulter packt, erklärt sich fast schon als dogmatische Selbstverständlichkeit. Sie folgt den Figuren in peinlicher Genauigkeit, zitiert ihre Gedanken allein durch das Spiel und porträtiert Verhaltensmuster, die einen sehr unangenehm berühren. Dass die unterschiedlichen Nationalitäten von Schauspielern in ihrem Akzent bleiben, stört den Regisseur überhaupt nicht. Es verstärkt sogar die Wirkung der gegenseitigen Entfremdung unter den Figuren. Es ist kein schöner Film mehr, aber er fasziniert. Man will nicht hinsehen, bleibt aber dran. Die Welt, wie wir sie kennen, zerstört sich selbst. Der Planet Melancholia wird zum Sinnbild des Unvermögens, die Zivilisation aufrechtzuerhalten.
Leider bleibt der Autorenfilmer in seinen Zuweisungen zu unspezifisch und scheint sich nicht festlegen zu wollen. Ist Justine am Ende die Hoffnung der Welt, oder symbolisiert Claire das Gewissen unseres Lebens? Die Welt, vertreten durch Kiefer Sutherland, Stellan Skarsgard und Charlotte Rampling, will ihr bevorstehendes Ende nicht wahrhaben. Die bipolare Justine hingegen wandelt sich zu einer ausgeglichenen Seele, während sich die beherrschte Claire im Laufe des Films ihrer Ängste nicht mehr erwehren kann. Die ungleichen Schwestern verschmelzen in ihrer gegenläufigen Entwicklung zu einer Einheit. Menschwerdung im Weltuntergang ist in den Augen eines dänischen Filmemachers keine leichte Geburt.
So gegenläufig sich die Entwicklung der Charaktere zeigt, präsentiert sich auch die Optik des Films. Der überwältigende Anfang steht konträr zur Erzählung seiner eigentlichen Geschichte. Dass in dessen Verlauf der Gebrauch des musikalischen Themas von Wagners TRISTAN-Vorspiel extrem überstrapaziert wird, ist leider eine krasse Fehlentscheidung bei der Fertigstellung von MELANCHOLIA. Allerdings dürfte dies für den Zuschauer eines der geringsten Probleme sein, um sich in einer Welt zurechtzufinden, die schon im richtigen Leben nicht leicht zu verstehen ist. Ganz zu schweigen von der Gedankenwelt eines kontroversen, eigenwilligen, dänischen Regisseurs.
Während des Films wiederholt Manuel Alberto Claro die optische Brillanz seines Anfangs nur wenige Male, als Erinnerung daran, in welchem Glanz die Erde untergehen wird. Nach einem enttäuschenden Hochzeitstag mit sämtlichen erdenklichen Katastrophen in Form von menschlichen Befindlichkeiten steht Justine ihrem frisch angetrauten Ehemann gegenüber und flüstert entschuldigend: »Was hast du erwartet?«
Gleichsam könnte diese Frage vom Regisseur an sein Publikum gerichtet sein. Eine intellektuelle Kampfansage an Zuschauer, die glauben, dass ihnen Lars von Trier zu viel versprochen hat. Dies hat er allerdings nicht, sondern es wird ihm nur so ausgelegt, weil der Macher dies in seiner künstlerischen Umsetzung geradewegs herausgefordert hat. Science-Fiction oder intellektuell überzogene Irrealität? Das Ende der Welt in Form von menschlichen Unzulänglichkeiten. »Was hast du erwartet?«
MELANCHOLIA
Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Alexander Skarsgard, Brady Corbet, Cameron Spur, Charlotte Rampling, Jesper Christensen, John Hurt, Stellan Skarsgard, Udo Kier, Kiefer Sutherland
Regie & Drehbuch: Lars von Trier
Kamera: Manuel Alberto Claro
Bildschnitt: Molly Malene Stensgaard
Produktionsdesign: Jette Lehmann
Dänemark – Schweden – Deutschland – Frankreich 2011
zirka 135 Minuten
Zentropa Entertainment u.v.m., Concorde Filmverleih
Promofotos Copyright 2011 Zentropa Entertainment & Concorde Filmverleih
Was habe ich erwartet?
Eines jedenfalls nicht: dass ich mich 130 Minuten lang gelangweilt habe; eine Langeweile, die auch nicht durch die »bildgewaltigen« Momente ausgeglichen werden konnte. Sorry, aber für »Otto Normalkinogeher« ist dieser Film ein absoluter Schrott (Mitkinogänger waren konsequent genug und sind noch während des ersten Teils gegangen).
Wahrscheinlich muss man professioneller Filmkritiker sein oder Psychologie studiert haben, um dem Film die in der Besprechung genannten positiven Eigenschaften abgewinnen zu können. Ich konnte es nicht! Sorry!
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Lieber Peter Emmerich,
was ich als Besprecher des Filmes vermisse, ist eine Weiterführung Deines eigenen Eingangssatzes: Was hast Du erwartet? Das hast Du nicht beantwortet. Dieser Film ist nicht absoluter Schrott. Er ist vielleicht in ‘Deinen’ Augen absoluter Schrott, aber Du darfst das nicht verallgemeinern, weil Du sonst jedem Kinogänger mit anderer Meinung das Recht absprichst, diese eigene Meinung zu haben.
Lass mich diese Frage stellen: Was hast Du tatsächlich erwartet, wenn Du für einen Film von Lars von Trier Geld ausgibst?
Ich bin weder profesioneller (bezahlter) Filmkritiker, aber auch kein Psychologe, und habe MELANCHOLIA dennoch als das verstanden, was er ausdrücken wollte. Finde ich ihn deswegen richtig gut? Glaube ich wirklich ein Meisterwerk gesehen zu haben? Steht in meiner Besprechung nicht auch, wie widersprüchlich der Film in seinem Konzeption ist?
Solltest Du, lieber Peter Emmerich, wegen dieser Filmbesprechung ins Kino gegangen sein, dann weisst Du wenigstens die zukünftigen Rezensionen richtig einzuschätzen. Aber so im genauerern Nachdenken bezweifle ich das, denn ich kann nicht nachvollziehen, wo Dein Kritikpunkt an der Rezension wirklich liegt. Der von Dir gestellte Satz »um dem Film die in der Besprechung genannten positiven Eigenschaften abgewinnen zu können« ist sehr missverständlich. Für meine eigene Erfahrung würde ich gerne wissen, was in dieser Besprechung der Anreiz zum Konsum dieses Filmes gewesen sein soll.
Es ist ein Film von Lars von Trier. Wer geht denn in einen Film von Lars von Trier ohne erahnen zu können was ihn erwartet? Wie kommt ein ‘Otto Normalkinogänger’ darauf, sich einen Film eines dänischen Dogma-Regisseurs anzusehen, und sich im Nachhinein zu beschweren. Bin ich in Erklärungsnot, oder Du?
Bitte antworte, denn ich bin einem konstruktiven Dialog sehr wohl angetan.
Ich bin in den Film gegangen, weil ich a) natürlich eine Inhaltsangabe gelesen hatte und b) einen Trailer sah, der sich sehr vielversprechend präsentierte. Es war also nicht Deine obige Rezension, die mich zum Besuch des Films animierte.
Was habe ich also erwartet? Das ist in einem Satz gesagt: Ich wollte unterhalten werden!
»Unterhaltung« heißt vür mich nicht immer nur durch reines »Popcornkino«, durchaus auch mal anspruchsvoller. Ich nenne mal zwei Filme: »Von Menschen und Göttern« als Beispiel für wirklich »schweren Tobak« oder auch »The King’s speech«, dem zweifelsfrei zusätzlich ein enormer Unterhaltungswert zugesprochen werden kann.
Zurück zu »Melancholia«: Hier kann ich Dir – was die ersten acht Minuten betrifft – absolut zustimmen. Zu diesem Zeitpunkt war ich auch noch sehr neugierig. Aber dann ging es los mit dem ersten Teil; ein überlanges Auto versucht das Brautpaar über eine enge Schotterstrasse zu den Hochzeitfeierlichkeiten zu transportieren. Ich frage mich ehrlich, was sollen diese 10 Minuten? Das war für die Handlung einfach nicht notwendig. Dann die Feierlichkeiten selbst, gefilmt mit einer Handkamera, dass ich Kopfweh bekam. Und das, was zur Handlung nötig gewesen wäre, hätte man in fünf bis zehn Minuten erzählen können. Aber nein, endlos und sinnlos und langweilig. Ok, ich gebe noch fünf Minuten hinzu, in welcher vor allem die Beziehungen der zwei Schwestern zueinander hätten herausgearbeitet werden können.
Der zweite Teil: Ok, da war ansatzweise so etwas wie eine »Endzeitstimmung« zu spüren (der Hamsterkauf, die »Selbstmord-Tabletten«, der Stromausfall u.s.w.); auch wurden die Beziehungen der wenigen »handelnden« Personen untereinander mehr ausgearbeitet. Aber auch hier war das alles viel zu langatmig und mit Handlungssträngen versehen, deren »Wichtigkeit« für den Film zumindest ich nicht nachvollziehen kann (z.B.: Was sollte die Geschichte mit den zwei Ausritten der Geschwister, wobei das Pferd von Justine immer an der Brücke scheute?)
Zugegeben, das Ende des Films, als Justine noch ihr Versprechen erfüllte, eine Hütte für Leo, Claires Sohn, zu bauen um darin auf das Ende der Welt zu warten, hatte etwas für sich.
Aber wie schon gesagt, diese seltenen Augenblicke waren einfach zu wenig, um mir die Langeweile zu nehmen – ich kann den Film wirklich nicht empfehlen.