LUNCHBOX ist einfach köstlich

Poster Lunchbox

THE LUNCHBOX – Bun­des­start 21.12.2013

Seit SLUMDOG MILLIONAIRE ist der fil­mi­sche Blick auf Indi­en auch von euro­päi­scher Sei­te aus geschärft. Spä­ter hat LIFE OF PI noch ein­mal nach­ge­scho­ben. Eigen­ar­ti­ger­wei­se wird dabei ger­ne außer Acht gelas­sen, das der Ers­te eine bri­ti­sche und der Zwei­te eine tai­wa­ne­si­sche Pro­duk­ti­on ist. Bis dahin war der indi­sche Film immer mit dem Kli­schee ein­her­ge­gan­gen, dass selbst in den tra­gischs­ten Situa­tio­nen die Dar­stel­ler in Gesang und Tanz aus­bre­chen wür­den. Doch LUNCHBOX zeigt nicht nur eine ganz ande­re Art Film, son­dern auch eine sehr eige­ne Art, eine Geschich­te zu erzäh­len. Die Wer­be­trom­meln möch­ten LUNCHBOX als Feel-Good-Movie ver­stan­den wis­sen, lie­gen damit aller­dings deut­lich dane­ben. Doch die Geschich­te von Saa­jan und Ila zu kate­go­ri­sie­ren ist ein schwe­res Unter­fan­gen. Denn so wit­zig er stel­len­wei­se ist, umso trau­ri­ger ist er manch­mal auch. Er stimmt nach­denk­lich, und macht den­noch Freu­de. Es ist eben ein indi­scher Film, der nicht auf die Stan­dards zurück­grei­fen muss, die Hol­ly­wood so erfolg­reich machen. Dass er den­noch mit die­sen Stan­dards spielt, sie andeu­tet und wie­der ver­wirft, dass macht die zau­ber­haf­te Stim­mung von LUNCHBOX aus.

Die Dabba­wa­las sind 5000 orga­ni­sier­te Essens­aus­trä­ger in Mum­bai, die vor­mit­tags die Essens­be­häl­ter von für­sorg­li­chen Ehe­frau­en oder spe­zi­el­len Dabba-Restau­rants abho­len, an die Arbeits­plät­ze der hart arbei­ten­den Män­ner lie­fern, und nach­mit­tags die lee­ren Behäl­ter zurück­brin­gen. Nun, die meist lee­ren Behäl­ter, denn Ila ist es gewohnt, dass ihr Ehe­mann die Hälf­te der Mahl­zeit zurück­ge­hen lässt. Umso erstaun­ter ist sie, als eines Tages ihr Behält­nis ganz leer ist. In einem unver­fäng­li­chen Gespräch mit ihrem Mann fin­det Ila her­aus, dass ihr Essens­be­häl­ter von einem Tag auf den ande­ren an die fal­sche Per­son ging. Da ihr Mann sowie­so kaum noch Inter­es­se für sie zeigt, sieht Ila kei­nen Grund etwas gegen die Falsch­lie­fe­rung zu unter­neh­men. Statt­des­sen nimmt sie die Her­aus­for­de­rung an, und mit dem Unbe­kann­ten Emp­fän­ger Kon­takt auf, indem sie dem Essen Brie­fe beilegt.

Lunchbox

Saa­jan Fer­nan­dez ist ein men­schen­scheu­er Wit­wer, der dem Vor­ru­he­stand ent­ge­gen geht. Die Nach­bars­kin­der mögen den stän­di­gen Nörg­ler nicht, sei­ne Arbeits­kol­le­gen hal­ten schon län­ger Abstand. Und so mag es Saa­jan auch ganz ger­ne. Erst als er in sei­nem Dabba-Restau­rant wegen des bal­di­gen Ruhe­stan­des sein mit­täg­li­ches Abon­ne­ment auf­kün­digt, fällt ihm auf, dass das plötz­lich so fan­tas­ti­sche Essen eine Ver­wechs­lung ist. Und als er den ers­ten Brief von Ila in den Hän­den hält, setzt das für den selbst­er­nann­ten Mis­an­thro­pen unan­ge­neh­me Ver­än­de­run­gen in Gang.

Ritesh Batra zeigt sei­ne von ihm ent­wor­fe­nen Figu­ren in einem fast schon träu­me­ri­schen Schwe­be­zu­stand. Er muss nie kon­kret wer­den, um den­noch prä­zi­se zu sein. Saa­jans Ein­sam­keit, oder Ilas Ver­dacht auf Untreue ihres Man­nes. Es sind immer wie­der vage Momen­te, die aber sehr viel bedeu­ten. So stellt der Regis­seur mit die­ser Erzähl­form den Zuschau­er direkt neben die Prot­ago­nis­ten, lässt ihn jeweils Teil des Gegen­übers sein, wel­cher mit dem Brief des ande­ren kon­fron­tiert wird. Dar­aus ent­spinnt sich eine span­nen­de Erwar­tungs­hal­tung, mit der man immer tie­fer in die Gefühls­welt von Saa­jan und Ila ein­taucht. Ihre Brief­wech­sel sind manch­mal ele­men­tar, manch­mal auch ein­fach nur tri­vi­al. Sie sind echt, nicht nur die Figu­ren an sich, son­dern auch die Momen­te, die sie in schrift­li­cher Form tei­len. Hier beginnt Regis­seur Batra sehr geschickt und unglaub­lich fein­füh­lig mit den Ver­satz­stü­cken des west­li­chen Kinos zu spie­len. Immer wie­der tun sich Augen­bli­cke auf, in denen sich der Zuschau­er sicher ist, gewis­se Din­ge vor­weg zu sehen. Aber es blei­ben nur Andeu­tun­gen, even­tu­el­le Mög­lich­kei­ten für den Zuschau­er, dem Glück vor­zu­grei­fen. Jeder im Film sehnt sich nach die­sem per­sön­li­chen Glück, und der Zuschau­er ist bereit es jedem zuzu­ge­ste­hen. Nur läuft die Geschich­te anders, so wie das Leben auch immer ande­re Wege ein­schlägt. LUNCHBOX wird so zu einem sehr ehr­li­chen Film, der den­noch sei­ne unge­zü­gel­te Roman­tik nicht unter­schla­gen muss. Auch wenn das Leben ande­re Wege geht, kann das Ziel näm­lich immer noch iden­tisch sein.

Ein nicht uner­heb­li­cher Anteil an der Inten­si­tät von LUNCHBOX trägt Micha­el Sim­monds’ Bild­ge­stal­tung. Lus­ti­ger­wei­se hat Sim­monds zum Bei­spiel auch bei PARANORMAL ACTIVITY 2 die Kame­ra geführt. Ein Film, der dadurch funk­tio­nier­te, dass er mit fes­ten Kame­ra­ein­stel­lun­gen arbei­te­te. In LUNCHBOX ist es nicht unähn­lich, weil Sim­monds nicht etwa das gro­ße Pan­ora­ma sucht, son­dern stets auf die wesent­li­chen Ele­men­te fokus­siert bleibt. Saa­jans Schreib­tisch, die Fahrt in der Bahn, Ila in ihrer Küche. Es gibt kei­ne schmü­cken­den Ele­men­te, kei­ne sonst übli­chen Ein­füh­rungs­schüs­se. Wenn sich Irr­fan Kahn nach dem Erhalt eines wei­te­ren Brie­fes fast etwas schuld­be­wusst in der Kan­ti­ne umsieht, dann bleibt die Kame­ra bei ihm, durch sei­ne Reak­ti­on erfährt das Publi­kum, ob er nun tat­säch­lich beob­ach­tet wird, oder nicht. Der Film ist ein Cha­rak­ter­stück, und die Kame­ra rich­tet sich danach, in dem sie das Ver­hält­nis zwi­schen dem Zuschau­er und der Figur intensiviert.

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Der längst auch im west­li­chen Kino bekann­te Irr­fan Khan ist zwei­fel­los das tra­gen­de Herz­stück in die­ser ergrei­fen­den Geschich­te, die sie ist, ohne rühr­se­lig zu sein. Aber sein weib­li­cher Gegen­part, oder bes­ser Mit­part, Nim­rad Kaur, steht Khan in Aus­druck und Emo­ti­on in nichts nach. Sie sind ein wohl­wol­lend ein­neh­men­des Gespann, die in ihrer Dar­stel­lung etwas ganz Span­nen­des frei­le­gen, von dem der Zuschau­er nicht los­kommt. Dazu umgibt die­se Figu­ren ein herr­li­ches Ensem­ble an wun­der­bar gezeich­ne­ten Neben­fi­gu­ren. Zuerst wäre da natür­lich der unge­zwun­gen fröh­li­che Shaikh, der von Nawa­zud­din Sid­di­qui so ehr­lich sen­si­bel gespielt wird, das man auch sei­ne Geschich­te ger­ne wei­ter ver­fol­gen wür­de. Aber am meis­ten bleibt wohl Bha­ra­ti Ach­re­kar hän­gen, die als Nach­ba­rin Aun­tie einen beson­de­ren Ein­druck hin­ter­lässt, obwohl man sie nie zu Gesicht bekommt. Ein für die Geschich­te hin­rei­ßen­der, und über­ra­schend gelun­ge­ner Einfall.

Etwas selt­sam mutet an, was in der deut­schen Syn­chro­ni­sa­ti­on wahr­schein­lich aus­bleibt, dass in der Ori­gi­nal­fas­sung die Dia­lo­ge in Hin­di als auch in Eng­lisch, mit bekannt stark indi­schem Akzent, gespro­chen wer­den. Selbst inner­halb von Dia­lo­gen wech­seln die Schau­spie­ler von Hin­di zu Eng­lisch und wie­der zurück, ein ver­ständ­li­ches Mus­ter ist dabei aller­dings nicht zu erken­nen. Wenn­gleich es zu Anfang ver­wirrt, scha­det es nicht dem ein­neh­men­den Ver­lauf der Hand­lung, die mit einer beein­dru­cken­den Kol­la­ge beginnt, wie die Dabba­wa­las in einem chao­tisch anmu­ten­den Sys­tem die Lunch­bo­xen abho­len, durch die Metro­po­le kut­schie­ren, mehr­mals, umsor­tie­ren, wei­ter trans­por­tie­ren, und letzt­end­lich zustel­len. In die­sem welt­weit ein­ma­li­ge Sys­tem von 5000 Dabba­wa­las und täg­lich zir­ka 200.000 Essens­be­häl­tern, erreicht bei 8 Mil­lio­nen Zustel­lun­gen nur eine Lunch­box den fal­schen Emp­fän­ger. Im Film behaup­ten die Dabba­wa­las, nie­mals Feh­ler zu bege­hen, und sie haben noch nie Feh­ler gemacht, und wer­den auch in Zukunft kei­ne machen. Und das in einem Film, in dem es dar­um geht, dass eben jener Feh­ler ein­ge­tre­ten ist. Oder ist es gar kein Feh­ler? Die hin­ter­grün­di­ge Magie von LUNCHBOX erlaubt durch­aus auch etwas Mys­tik. Denn für die Leben von Saan­ja und Ila war es kein Feh­ler, dass die Boxen ver­tauscht wur­den, und die Dabba­wa­las wür­den Recht behal­ten, auch wenn die fal­sche Box gelie­fert wurde.

LUNCHBOX ist nicht das Feel-Good-Movie das der Ver­leih zwang­haft ver­sucht zu ver­kau­fen. Er ist weit mehr, was sich aller­dings schwer ver­mit­teln lässt. Er ist unglaub­lich span­nend, ohne Thril­ler zu sein, sehr wit­zig, ohne als Komö­die zu funk­tio­nie­ren, und extrem dra­ma­tisch, ohne die Trä­nen­drü­se zu belas­ten. LUNCHBOX ist kein Film über das stets frag­wür­di­ge Fin­den alles Glü­ckes die­ser Welt, das der Zuschau­er immer vor­ge­setzt bekommt. Wenn der Abspann beginnt, ent­puppt sich LUNCHBOX als ein Film über die Hoff­nung, die wir alle in uns tra­gen, und verstehen.

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THE LUNCHBOX
Dar­stel­ler: Irr­fan Khan, Nim­rad Kaur, Nawa­zud­din Sid­di­qui, Den­zil Smith, Bha­ra­ti Ach­re­kar, Nakul Vaid, Yash­vi Puneet Nagar, Lil­let­te Dubey u.a.
Regie & Dreh­buch: Ritesh Batra
Kame­ra: Micha­el Simmonds
Bild­schnitt: John Lyons
Musik: Max Richter
Pro­duk­ti­ons­de­sign: Shru­ti Gupte
zir­ka 104 Minuten
Indi­en-Frank­reich-Deutsch­land-USA / 2013

Pro­mo­fo­tos Copy­right NFP Mar­ke­ting & Dis­tri­bu­ti­on / Sony Pic­tures Classic

 

AutorIn: Bandit

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