Die Geschichte des Walfangschiffes Essex war nicht »die« Inspiration für Herman Melvilles MOBY DICK. Sondern eines von mehreren Ereignissen, welche Melville zu seinem Erfolgsroman inspirierten, und in den er dieses mit einfließen ließ. Das macht die Geschichte von IM HERZEN DER SEE nur noch interessanter, die letztendlich auch als eine Art Prequel interpretiert werden könnte. Ron Howard ist bekanntlich einer der Regisseure, der wahre Begebenheiten wie ein weit hergeholtes Spektakel an Erfindungsreichtum inszenieren kann, um den Zuschauer in bestmöglicher Form mit den Mitteln des Kino zu unterhalten. APOLLO 13, A BEAUTIFUL MIND, CINDERELLA MAN, FROST/NIXON, und RUSH gingen IM HERZEN DER SEE voraus, und verdeutlichen für den Einzelnen eindringlich, was er von diesem Film zu erwarten hat.
Im Jahre 1820 bricht das Walfangschiff Essex auf, um seinen Frachtraum mit 2000 Fässern Walöl zu füllen. An Bord der Obermaat Owen Chase, der für diese Reise um sein Kapitänspatent betrogen wurde. Kapitän wurde der unerfahrene George Pollard, der allein wegen seines adeligen Standes den Vorzug erhielt. Die Männer machen sich umgehend gegenseitig klar, was sie voneinander halten. So kommt es während der Reise unentwegt zu Reibereien. Dazwischen macht der junge Seemann Thomas Nickerson seine ersten Erfahrungen auf See, und im Walfang. Im Jahre 1850 wird der gealterte Nickerson Besuch von Herman Melville erhalten, der Autor will sich die wahre Geschichte um die Besatzung der Essex erzählen lassen. Das Gespräch von Melville und Nickerson bildet auch die Rahmenhandlung zu IM HERZEN DER SEE. Es ermöglicht dem Film, viele Dinge aus einer Erzählerperspektive zu erklären, die filmisch sehr schwer umzusetzen gewesen wären. Wie zum Beispiel die grauenhaften Ereignisse während der 90 Tage im Rettungsboot.
Anstatt auf das ganz große Epos zu setzen, tritt Ron Howard mit seiner Crew einen Schritt zurück. Viele Szenen sind kammerspielartig sehr dicht an den Personen inszeniert. Kameramann Anthony Dod Mantle mischt darunter immer wieder Bilder, die mit äußerst geringer Schärfentiefe aufgenommen wurden. Das ist allerdings ein Gimmick, welches keinen inhaltlichen Einklang bringt. Dafür springt der Film bei den entscheidenden Action-Sequenzen in die epochalen Bildtotalen. Gigantische Wal-Schwärme und dazwischen drei Ruderboote mit ihren Harpunierern. Hier schafft Howard immer wieder, den Zuschauer von einer fast intimen Atmosphäre an Bord der Essex, in ein bildgewaltiges Abenteuer auf hoher See zu stoßen. Und das verfehlt seine Wirkung nicht. Allerdings leidet der Film gleichzeitig an seiner an Farbe und Kontrast manipulierten Bildgestaltung. Szenen mit visuellen Effekten, und das sind eben alle in denen Wale vorkommen, lassen ihre Künstlichkeit durch den Einsatz des Computers erkennen. Tricktechnisch könnte man IM HERZEN DER SEE zehn Jahre vor seiner eigentlichen Entstehung ansetzen.
Trotz allem ist Ron Howard wieder ein spannender und einnehmender Film gelungen. Er beherrscht einfach das richtige Tempo in den Szenen, aber auch ihren dramatischen Aufbau. Etwas Kürzung hätten im dritten Akt die 90 Tage Seenot vertragen. Was einem allerdings erst bei einer zweiten Sichtung bewusster wird. Nickerson beginnt seine Erzählung mit den Worten, dass die Geschichte der Essex eigentlich die Geschichte von Owen Chase und George Pollard ist. Zwei Charaktere, die sich gegenseitig gut einzuschätzen vermögen, aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Und deren Überheblichkeit auch das Ende der Essex heraufbeschwören könnte. Hier greift IM HERZEN DER SEE auch den Kern von MOBY DICK auf, dass der Mensch nur Teil der Natur ist, sich aber niemals über sie erheben kann. Besonders eindringlich wird dies im letzten Drittel, wenn es darum geht, die Seenot zu überleben, und auf unaussprechliche Maßnahmen zurück zu greifen. Der weiße Wal wird dabei zum Synonym. Er ist weder Monster, noch Heiligtum. Er wird zum Gewissen der Menschen.
Jetzt ist Walfang in unserer Zeit politisch etwas in Frage gestellt. Doch es ist erfreulich, dass weder Drehbuch noch Regie diesen Aspekt ins 19. Jahrhundert verlegen wollten, wo die Frage nach Naturschutz und respektvollen Umgang mit der Natur schlichtweg keine Frage war. Dennoch hat Howard eine Botschaft unaufdringlich, aber dramaturgisch effektiv in den Film einbauen können. Der Einklang mit der Natur ist erst möglich, wenn wir als Mensch nicht glauben, ihr überlegen zu sein. Und so werden die filmischen Schwächen von Ron Howards jüngstem Film auf ein Minimum reduziert, wenn man zum Kern der Geschichte vorgedrungen ist.
IM HERZEN DER SEE – IN THE HEART OF THE SEA
Darsteller: Chris Hemsworth, Tom Holland, Benjamin Walker, Ben Whishaw, Cillian Murphy, Charlotte Riley, Brendan Gleeson, Frank Dillane u.a.
Regie: Ron Howard
Drehbuch: Charles Leavitt
Kamera: Anthony Dod Mantle
Bildschnitt: Daniel P. Hanley, Mike Hill
Musik: Roque Baños
Produktionsdesign: Mark Tildesley
121 Minuten
USA 2015
Promofotos Copyright Warner Bros.