Jeden Morgen, wenn Christine erwacht, beginnt ihr Leben von vorne. Eine Vierzigjährige, die glaubt in der Nacht zuvor als Zwanzigjährige ins Bett gegangen zu sein. Und jeden Morgen erzählt Ehemann Ben von ihrem schrecklichen Unfall, bei der sie eine psychogene Amnesie erlitten hat. Seit vierzehn Jahren erwacht Christine jeden einzelnen Tag ohne jede Erinnerung an die Geschehnisse vom Vortag. Hochzeitsbilder von ihr und Ben hängen im Badezimmer, um eventuell aufkeimende Erinnerungen zu unterstützen. Schränke und Kommoden sind mit Post-Its beklebt, damit sich Christine im Haus zurecht findet. Für Christine geschieht das alles immer zum ersten Mal, aber für Ben ist es eine schmerzhaft endlose Schleife an Wiederholungen. Aber dass dieser Film kein Drama, sondern Psychothriller sein wird, weiß man spätestens seit dem Beginn des Marketings von ICH DARF NICHT SCHLAFEN.
Und hier denkt man nicht unbedingt an das MURMELTIER, sondern ersehnt sich eher ein verzwicktes Rätsel, das Nolans MEMENTO Tribut zollen könnte. Im Verlauf mischt sich dann noch ein Doktor Nasch in das komplizierte Leben von Christine, der sie jeden Morgen telefonisch daran erinnert, dass sie ein Videotagebuch führt, aber Ben nichts davon erfahren darf. Die Handlung legt schon in den ersten Szenen genug nebulöse Zeichen, um daraus ein raffiniertes Rätselwerk zu konstruieren. Irgendjemand spielt ein falsches Spiel. Es könnte Doktor Nasch sein, oder Ben selbst. Christine ist je nach Tag und den jeweiligen Informationen hin und her gerissen, wem sie trauen kann, und wem nicht. Immer wieder können sich die beiden Herren Christine gegenüber erklären. Immer wieder sind diese Erklärungen schlüssig, Christines Situation wird dadurch allerdings immer verwirrender.
Ein Psychothriller mit Kidman, Firth und Strong. Da muss der Erfolg in trockenen Tüchern sein. Vor allem Strong, der viel zu lange brauchte, um endlich seine verdiente Aufmerksamkeit von Seiten der Studios und des Publikums zu erfahren. Ein grandioses Trio, welches sich in seinen Charakterzeichnungen und seinem intensiven Spiel nicht einfach nur gegenseitig stützt, sondern förmlich aneinander hoch arbeitet. Regisseur und Autor Rowan Joffe hat sehr einnehmende Figuren geschrieben, die dem Inhalt mehr Intensität, aber auch Glaubwürdigkeit verleihen. Wäre da nicht die zweite Hälfte des Films.
Hat sich ICH DARF NICHT SCHLAFEN erst einmal sein raffiniertes Konstrukt von Paranoia, Verschwörung und Spannungselementen zurechtgelegt, weiß Regisseur Rowan Joffe nichts mehr damit anzufangen. Sein Film zerfällt in dramaturgische Klischees, die seiner ersten Hälfte gar nicht mehr gerecht werden. Hat sich vierzehn Jahre nichts an Christines Amnesie verändert, tut es dies unvermittelt dann zu Gunsten der zweiwöchigen Erzählspanne des Films. Wurden die Nebencharakter undurchsichtig und mit allen Möglichkeiten in ihrer Entwicklung gehalten, setzt man auch hier genauso unvermittelt auf das absehbare Klischee. Der Psychothriller liebende Genre-Fan wird sich im Verlauf der ersten Hälfte zwei Variationen von Auflösung zurecht legen. Nur zwei, allerdings liegt die eigentliche Spannung darin, wenn einer der vermuteten Charaktere etwas begangen hat, warum er das tat. Auf einer Ebene mit einem spannenden Rätsel fügt sich also eine zweite Ebene hinzu. Was aber sehr vielversprechend eingeführt wird, beantwortet der Regisseur und Autor achselzuckend mit der offensichtlichsten aller Auflösungen. Eigentlich nicht einfach, eher billig, was er sich da ausgedacht hat. Und dies bestreitet auch noch die gesamte zweite Hälfte des Neunzigminüters.
ICH DARF NICHT SCHLAFEN enttäuscht, weil er wesentlich mehr versprochen hat. ICH DARF NICHT SCHLAFEN gewinnt mit seinen überzeugenden Darstellern. ICH DARF NICHT SCHLAFEN ist letztendlich wirklich enttäuschend, weil er seine Grundprämisse nicht überzeugend zu nutzen versteht, und somit seine hervorragenden Darsteller in ein Vakuum von Plattitüden laufen lässt. Schade um das verschwendete Ensemble, das einen verheißungsvollen Film tragen muss, welcher keine Spur von Innovation durchscheinen lässt. Dafür gibt es diese eine, diese gewisse Einstellung von Nicole Kidman am Anfang, die wenigstens männliche Zuschauer auf Vordermann bringt. Idiotisch nur, wenn ein Film das wirklich nötig hat. Noch einmal: Einfach schade.
ICH. DARF. NICHT. SCHLAFEN. – BEFORE I GO TO SLEEP
Darsteller: Nicole Kidman, Mark Strong, Colin Firth, Ben Crompton, Anne-Marie Duff, Adam Levy u.a.
Drehbuch & Regie: Rowan Joffe, nach dem Roman von S.J. Watson
Kamera: Ben Davies
Bildschnitt: Melanie Oliver
Musik: Ed Shearmur
Produktionsdesign: Kave Quinn
92 Minuten
Großbritannien – Frankreich – Schweden 2014
Promofotos Copyright Splendid Film / Sony Pictures Releasing