Alles an BIRDMAN ist irgendwie verdreht, aber nichts davon verkehrt. Ein eigenartiger Film, von dem man nicht weiß, was man erwarten soll, und am Ende zur Erkenntnis kommt, alles kam unerwartet. Ein eigenartiger Film, weil er tatsächlich seine ganz eigene Art hat. Alejandro González Iñárritu hat noch nie einfache Filme gemacht, aber stets extrem komplexe Reflexionen über das menschliche Individuum. Eine Komödie ist dabei bisher noch nicht entstanden. Doch bei BIRDMAN ist eben alles irgendwie verdreht. Wer dieser Komödie den eigentlichen Witz absprechen will, liegt damit auch nicht so falsch, denn der Film hat keinerlei pointierten Humor. Aber für ein Drama ist er wiederum viel zu witzig. BIRDMAN ist eine Weiterentwicklung von Alejandro González Iñárritus Schaffenskraft. Und weil er noch nie einfache Filme gemacht hat, ändert sich das auch nicht mit BIRDMAN. Am Ende des Films lautet die Schlagzeile einer Zeitung über die Hauptfigur: Die unerwartete Macht von Ignoranz. Wo die Deutschen wieder die »Ahnungslosigkeit« im Titel hernehmen bleibt ein Rätsel. Gleichzeitig ist diese unerwartete Macht von Ignoranz auch auf den Film selbst übertragbar. Aber dazu muss man sich erst einmal auf BIRDMAN einlassen, man muss dafür bereit sein. Und das ist nicht gerade einfach.
Riggan Thomson ist ein abgehalfterter Schauspieler, der durch eine Superheldenrolle bekannt wurde. Das ist Jahre her, und Riggan möchte seine Karriere erneut beleben, indem er ein Theaterstück am Broadway inszeniert. Doch da sind nicht nur seine unberechenbaren Darsteller, sondern auch seine verhasste Vergangenheit, die ihn einfach nicht zur Ruhe kommen lässt, und eine Tochter zu der er einfach keinen Zugang finden will. Da ist einiges geboten auf der Bühne und in den Katakomben des St. James Theatre. Und wer schon einmal das Vergnügen hatte, sich im Bereich hinter der Bühne eines Theaters aufhalten zu dürfen, dem wird sofort der Wahnsinn bewusst, den Kameramann Emmanuel Lubezki seinen Steadicam-Operator Chris Haarhoff ausgesetzt hat. Ständig ist die Kamera in Bewegung, rauscht in ungeschnittenen Einstellungen durch schier endlose Gänge, über unzählige Treppen, von Garderobe zur Bühne zurück in andere Garderoben. Nicht nur die Enge der Räumlichkeiten muss eine extreme Herausforderung gewesen sein, sondern auch die atemberaubende Choreografie für die ständigen Wechsel von Set zu Set.
Natürlich wurde BIRDMAN nicht in einer einzigen Einstellung gedreht, auch wenn es heute technisch machbar ist. Aber des filmischen Verständnisses seines Publikums bewusst, nutzt Iñárritu das auch noch für einen dramaturgischen Kniff. Die erste Stunde ist so inszeniert, dass Übergänge überhaupt nicht zu erkennen sind und die 56 Minuten tatsächlich wie eine einzige, fließende Einstellung wirken. In den folgenden dreißig Minuten werden mögliche Übergänge zwischen einzelnen Takes deutlicher, indem die Kamera bewusst auffallend über Accessoires schwenkt, oder beliebige Motive ins Bild nimmt. Schließlich wird in der letzten halben Stunde jeder Übergang in den Takes mit kunstvollen, über den Computer animierte Kamerafahrten vollführt. Aber an keinem Punkt verliert der Film deswegen seinen dahin gleitenden Charakter, der ihm so viel einnehmende Spannung verleiht. Noch dazu, wo sich Tageszeiten oder Tage selbst, innerhalb einer Szene ändern.
Es wäre möglich zu bemängeln, dass BIRDMAN nicht den Mut hatte, tatsächlich der Idee einer wirklich einzigen Kameraeinstellung mit nicht erkennbaren Übergängen nachgegangen zu sein. Wäre möglich, aber wozu? Noch viel spannender sind dann nämlich die Dialoge, die allesamt tatsächlich in einem Take gedreht wurden. Eine immense Leistung, weil jede Dialogszene makellos ausgespielt ist, ohne das Drama, oder die Improvisation zu überbeanspruchen. Oder den Humor aus den Szenen zu nehmen. Nicht zu vergessen. Schließlich ist BIRDMAN eine Komödie. Irgendwie. Wie auch der Film irgendwie alles sein kann, oder gleichzeitig alles ist. Irgendwie. Teilweise ist es verrückt, wie der Film mit all seinen einzelnen Versatzstücken spielt. So sagt Riggan Thomson er hätte den Superhelden Birdman das letzte Mal 1992 gespielt. Das Jahr, in dem Michael Keaton seinen letzten BATMAN-Auftritt hatte. Oder die Rolle des immer Schwierigkeiten machenden Mike mit Edward Norton zu besetzen, der berüchtigt dafür ist, bei Produktionen quer zu schießen. Dann wird der einzige vernünftige, ohne Allüren ausgestatte Charakter ausgerechnet mit Zach Galifianakis besetzt. Nebenbei eine seiner überzeugendsten Rolle bisher.
Immer mehr spielt der Film mit der Wahrnehmungen und Erwartungen seines Publikums. Eine renommierte Theaterkritikerin, die schon im Vorfeld ankündigt, Thomson und sein Stück zu zerstören, nur weil ihr die Filmschauspieler auf die Nerven gehen, welche die Bühnen am Broadway besetzen, und den wirklichen Künstlern die Spielfläche nehmen. Dann inszeniert Thomson ausgerechnet eine Kurzgeschichte von Raymond Carver für die Bühne. Was wie ein Kommentar wirkt, wenn längere Romane für einen Spielfilm adaptiert werden, und die mangelnde Zeit Kritikpunkt dafür ist, dem Roman nicht gerecht zu werden. Ein echter Kommentar hingegen ist der festgelegte Typus eines Schauspielers, der nur durch eine Rolle stigmatisiert ist. Riggan Thomson will diesen seine Karriere bestimmenden Charakter loswerden. BIRDMAN als Film braucht aber diesen festgelegten Typ, um zu funktionieren. Die Figur stellt sich also gegen den Film in dem sie auftritt.
Alles stellt Alejandro González Iñárritu auf den Kopf. Jeder Form von gängiger Dramaturgie wird entgegen inszeniert. Er mischt die Realitäten seiner Darsteller mit deren Figuren. Als Film präsentiert er sich allerdings lieber wie ein Bühnenstück. Ach, und dann ist es ja auch noch eine Komödie. Und die bezieht ihren Witz daraus, dass sie ohne humorvolle Pointen auskommt. Und das ist die unerwartete Macht von Ignoranz. Ignoranz gegenüber dem dramaturgischen Regelwerk. Ignoranz gegenüber inszenatorischen Etiketten. Und das Ignorieren von Grenzen, welche die Realität von der geistigen Fantasie trennt. Das hat nicht im geringsten etwas mit »Ahnungslosigkeit« zu tun, wie der deutsche Verleih sich wieder einmal blamiert, es ist künstlerischen Kalkül. Alejandro González Iñárritu hat noch nie einfache Filme gedreht. Und BIRDMAN ist ebenso vielschichtig, tiefgreifend, und komplex wie seine vorangegangenen Filme. Nur eben viel witziger … Okay, genug damit. Man muss sich darauf einlassen können. Man muss dafür bereit sein. BIRDMAN ist nicht einfach nur Kino, BIRDMAN ist eine Erfahrung. Und das muss man mögen. Weil eben Unterhaltung nicht immer einfach nur Unterhaltung sein kann.
BIRDMAN
Darsteller: Michael Keaton, Emma Stone, Zach Galifianakis, Naomi Watts, Amy Ryan, Edward Norton, Andrea Riseborough, Kenny Chin u.a.
Regie: Alejandro González Iñárritu
Drehbuch: Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Armando Bo
Kamera: Emmanuel Lubezki
Bildschnitt: Douglas Crise, Stephen Mirrione
Musik: Antonio Sanchez
Produktionsdesign: Kevin Thompson
119 Minuten
USA – Kanada 2014
Promofotos Coypright 20th Century Fox of Germany
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