BIRDMAN (oder die unerhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

Poster Birdman

BIRDMAN: or (The Unex­pec­ted Vir­tue Of Igno­rance) – Bun­des­start 29.01.2015

Alles an BIRDMAN ist irgend­wie ver­dreht, aber nichts davon ver­kehrt. Ein eigen­ar­ti­ger Film, von dem man nicht weiß, was man erwar­ten soll, und am Ende zur Erkennt­nis kommt, alles kam uner­war­tet. Ein eigen­ar­ti­ger Film, weil er tat­säch­lich sei­ne ganz eige­ne Art hat. Ale­jan­dro Gon­zá­lez Iñár­ri­tu hat noch nie ein­fa­che Fil­me gemacht, aber stets extrem kom­ple­xe Refle­xio­nen über das mensch­li­che Indi­vi­du­um. Eine Komö­die ist dabei bis­her noch nicht ent­stan­den. Doch bei BIRDMAN ist eben alles irgend­wie ver­dreht. Wer die­ser Komö­die den eigent­li­chen Witz abspre­chen will, liegt damit auch nicht so falsch, denn der Film hat kei­ner­lei poin­tier­ten Humor. Aber für ein Dra­ma ist er wie­der­um viel zu wit­zig. BIRDMAN ist eine Wei­ter­ent­wick­lung von Ale­jan­dro Gon­zá­lez Iñár­ri­tus Schaf­fens­kraft. Und weil er noch nie ein­fa­che Fil­me gemacht hat, ändert sich das auch nicht mit BIRDMAN. Am Ende des Films lau­tet die Schlag­zei­le einer Zei­tung über die Haupt­fi­gur: Die uner­war­te­te Macht von Igno­ranz. Wo die Deut­schen wie­der die »Ahnungs­lo­sig­keit« im Titel her­neh­men bleibt ein Rät­sel. Gleich­zei­tig ist die­se uner­war­te­te Macht von Igno­ranz auch auf den Film selbst über­trag­bar. Aber dazu muss man sich erst ein­mal auf BIRDMAN ein­las­sen, man muss dafür bereit sein. Und das ist nicht gera­de ein­fach.

Rig­gan Thom­son ist ein abge­half­ter­ter Schau­spie­ler, der durch eine Super­hel­den­rol­le bekannt wur­de. Das ist Jah­re her, und Rig­gan möch­te sei­ne Kar­rie­re erneut bele­ben, indem er ein Thea­ter­stück am Broad­way insze­niert. Doch da sind nicht nur sei­ne unbe­re­chen­ba­ren Dar­stel­ler, son­dern auch sei­ne ver­hass­te Ver­gan­gen­heit, die ihn ein­fach nicht zur Ruhe kom­men lässt, und eine Toch­ter zu der er ein­fach kei­nen Zugang fin­den will. Da ist eini­ges gebo­ten auf der Büh­ne und in den Kata­kom­ben des St. James Theat­re. Und wer schon ein­mal das Ver­gnü­gen hat­te, sich im Bereich hin­ter der Büh­ne eines Thea­ters auf­hal­ten zu dür­fen, dem wird sofort der Wahn­sinn bewusst, den Kame­ra­mann Emma­nu­el Lubez­ki sei­nen Ste­adi­cam-Ope­ra­tor Chris Haar­hoff aus­ge­setzt hat. Stän­dig ist die Kame­ra in Bewe­gung, rauscht in unge­schnit­te­nen Ein­stel­lun­gen durch schier end­lo­se Gän­ge, über unzäh­li­ge Trep­pen, von Gar­de­ro­be zur Büh­ne zurück in ande­re Gar­de­ro­ben. Nicht nur die Enge der Räum­lich­kei­ten muss eine extre­me Her­aus­for­de­rung gewe­sen sein, son­dern auch die atem­be­rau­ben­de Cho­reo­gra­fie für die stän­di­gen Wech­sel von Set zu Set.

Natür­lich wur­de BIRDMAN nicht in einer ein­zi­gen Ein­stel­lung gedreht, auch wenn es heu­te tech­nisch mach­bar ist. Aber des fil­mi­schen Ver­ständ­nis­ses sei­nes Publi­kums bewusst, nutzt Iñár­ri­tu das auch noch für einen dra­ma­tur­gi­schen Kniff. Die ers­te Stun­de ist so insze­niert, dass Über­gän­ge über­haupt nicht zu erken­nen sind und die 56 Minu­ten tat­säch­lich wie eine ein­zi­ge, flie­ßen­de Ein­stel­lung wir­ken. In den fol­gen­den drei­ßig Minu­ten wer­den mög­li­che Über­gän­ge zwi­schen ein­zel­nen Takes deut­li­cher, indem die Kame­ra bewusst auf­fal­lend über Acces­soires schwenkt, oder belie­bi­ge Moti­ve ins Bild nimmt. Schließ­lich wird in der letz­ten hal­ben Stun­de jeder Über­gang in den Takes mit kunst­vol­len, über den Com­pu­ter ani­mier­te Kame­ra­fahr­ten voll­führt. Aber an kei­nem Punkt ver­liert der Film des­we­gen sei­nen dahin glei­ten­den Cha­rak­ter, der ihm so viel ein­neh­men­de Span­nung ver­leiht. Noch dazu, wo sich Tages­zei­ten oder Tage selbst, inner­halb einer Sze­ne ändern.

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Es wäre mög­lich zu bemän­geln, dass BIRDMAN nicht den Mut hat­te, tat­säch­lich der Idee einer wirk­lich ein­zi­gen Kame­ra­ein­stel­lung mit nicht erkenn­ba­ren Über­gän­gen nach­ge­gan­gen zu sein. Wäre mög­lich, aber wozu? Noch viel span­nen­der sind dann näm­lich die Dia­lo­ge, die alle­samt tat­säch­lich in einem Take gedreht wur­den. Eine immense Leis­tung, weil jede Dia­log­sze­ne makel­los aus­ge­spielt ist, ohne das Dra­ma, oder die Impro­vi­sa­ti­on zu über­be­an­spru­chen. Oder den Humor aus den Sze­nen zu neh­men. Nicht zu ver­ges­sen. Schließ­lich ist BIRDMAN eine Komö­die. Irgend­wie. Wie auch der Film irgend­wie alles sein kann, oder gleich­zei­tig alles ist. Irgend­wie. Teil­wei­se ist es ver­rückt, wie der Film mit all sei­nen ein­zel­nen Ver­satz­stü­cken spielt. So sagt Rig­gan Thom­son er hät­te den Super­hel­den Bird­man das letz­te Mal 1992 gespielt. Das Jahr, in dem Micha­el Kea­ton sei­nen letz­ten BAT­MAN-Auf­tritt hat­te. Oder die Rol­le des immer Schwie­rig­kei­ten machen­den Mike mit Edward Nor­ton zu beset­zen, der berüch­tigt dafür ist, bei Pro­duk­tio­nen quer zu schie­ßen. Dann wird der ein­zi­ge ver­nünf­ti­ge, ohne Allü­ren aus­ge­stat­te Cha­rak­ter aus­ge­rech­net mit Zach Gali­fia­na­kis besetzt. Neben­bei eine sei­ner über­zeu­gends­ten Rol­le bis­her.

Immer mehr spielt der Film mit der Wahr­neh­mun­gen und Erwar­tun­gen sei­nes Publi­kums. Eine renom­mier­te Thea­ter­kri­ti­ke­rin, die schon im Vor­feld ankün­digt, Thom­son und sein Stück zu zer­stö­ren, nur weil ihr die Film­schau­spie­ler auf die Ner­ven gehen, wel­che die Büh­nen am Broad­way beset­zen, und den wirk­li­chen Künst­lern die Spiel­flä­che neh­men. Dann insze­niert Thom­son aus­ge­rech­net eine Kurz­ge­schich­te von Ray­mond Car­ver für die Büh­ne. Was wie ein Kom­men­tar wirkt, wenn län­ge­re Roma­ne für einen Spiel­film adap­tiert wer­den, und die man­geln­de Zeit Kri­tik­punkt dafür ist, dem Roman nicht gerecht zu wer­den. Ein ech­ter Kom­men­tar hin­ge­gen ist der fest­ge­leg­te Typus eines Schau­spie­lers, der nur durch eine Rol­le stig­ma­ti­siert ist. Rig­gan Thom­son will die­sen sei­ne Kar­rie­re bestim­men­den Cha­rak­ter los­wer­den. BIRDMAN als Film braucht aber die­sen fest­ge­leg­ten Typ, um zu funk­tio­nie­ren. Die Figur stellt sich also gegen den Film in dem sie auf­tritt.

Alles stellt Ale­jan­dro Gon­zá­lez Iñár­ri­tu auf den Kopf. Jeder Form von gän­gi­ger Dra­ma­tur­gie wird ent­ge­gen insze­niert. Er mischt die Rea­li­tä­ten sei­ner Dar­stel­ler mit deren Figu­ren. Als Film prä­sen­tiert er sich aller­dings lie­ber wie ein Büh­nen­stück.  Ach, und dann ist es ja auch noch eine Komö­die. Und die bezieht ihren Witz dar­aus, dass sie ohne humor­vol­le Poin­ten aus­kommt. Und das ist die uner­war­te­te Macht von Igno­ranz. Igno­ranz gegen­über dem dra­ma­tur­gi­schen Regel­werk. Igno­ranz gegen­über insze­na­to­ri­schen Eti­ket­ten. Und das Igno­rie­ren von Gren­zen, wel­che die Rea­li­tät von der geis­ti­gen Fan­ta­sie trennt. Das hat nicht im gerings­ten etwas mit »Ahnungs­lo­sig­keit« zu tun, wie der deut­sche Ver­leih sich wie­der ein­mal bla­miert, es ist künst­le­ri­schen Kal­kül. Ale­jan­dro Gon­zá­lez Iñár­ri­tu hat noch nie ein­fa­che Fil­me gedreht. Und BIRDMAN ist eben­so viel­schich­tig, tief­grei­fend, und kom­plex wie sei­ne vor­an­ge­gan­ge­nen Fil­me. Nur eben viel wit­zi­ger … Okay, genug damit. Man muss sich dar­auf ein­las­sen kön­nen. Man muss dafür bereit sein. BIRDMAN ist nicht ein­fach nur Kino, BIRDMAN ist eine Erfah­rung. Und das muss man mögen. Weil eben Unter­hal­tung nicht immer ein­fach nur Unter­hal­tung sein kann.

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BIRDMAN
Dar­stel­ler: Micha­el Kea­ton, Emma Stone, Zach Gali­fia­na­kis, Nao­mi Watts, Amy Ryan, Edward Nor­ton, Andrea Rise­bo­rough, Ken­ny Chin u.a.
Regie: Ale­jan­dro Gon­zá­lez Iñár­ri­tu
Dreh­buch: Ale­jan­dro Gon­zá­lez Iñár­ri­tu, Nicolás Gia­co­bo­ne, Alex­an­der Dinel­aris, Arman­do Bo
Kame­ra: Emma­nu­el Lubez­ki
Bild­schnitt: Dou­glas Cri­se, Ste­phen Mir­rio­ne
Musik: Anto­nio San­chez
Pro­duk­ti­ons­de­sign: Kevin Thomp­son
119 Minu­ten
USA – Kana­da 2014
Pro­mo­fo­tos Coyp­right 20th Cen­tu­ry Fox of Ger­ma­ny

2 Kommentare zu „BIRDMAN (oder die unerhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“

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