THE HUNGER GAMES: THE BALLAD OF SONGBIRDS AND SNAKES
– Bundesstart 16.11.2023, – Release 15.11.2023 (Fr)
Wenn eine Geschichte zu Ende erzählt ist, dann geht man weit zurück zu den Ursprüngen jener Geschichte. Denn, so sagen die Macher und Buchhalter, es ist unglaublich spannend wie es dazu kommen konnte. Was gemeint ist, hängt von der Vorlage ab. In diesem Fall DIE TRIBUTE VON PANEM. Von den unzähligen »junge Erwachsene«-Romanen, in denen unerfahrene Jugendliche ganze Welten von lange beständigen Tyranneien erlösen, gehört Suzanne Collins TRIBUTE VON PANEM unbestritten zu den Besten. Und die Erfolge der Verfilmungen ergaben sich auch aus der schlüssigen Formation von Heldenreise und Figurenzeichnung. Die Ideensammlungen für eine Weiterführung begannen schon vor acht Jahren, kurz nach dem Start des vierten Teiles der Trilogie. Eigentlich eine lange Zeit. Doch SONGBIRDS AND SNAKES erweckt den Anschein, als wären die Produzenten unvermittelt unter großen Zeitdruck geraden.
65 Jahre in der Vergangenheit stehen nun die zehnten Hungerspiele an. Jeweils ein Mädchen und ein Jungen aus den 12 Distrikten von Panem werden als Tribute in einer Arena um ihr Leben kämpfen, bis nur noch ein Tribut übrig ist. Doch die Einschaltquoten für diese zweifelhafte Veranstaltung zum Gedenken an den Krieg des Capitols gegen die Distrikte sind stark im sinken begriffen. Es geht also um die allgegenwärtige und immer entscheidende Quote. Was auf unsere gesellschaftliche Struktur und sozialen Zwänge bezogen, grundsätzlich ein interessanter und tiefgreifender Kommentar sein könnte.
Letztendlich entscheidet sich der Film gegen das Interessante und Tiefgreifende. Coriolanus Snow, einst von Donald Sutherland verkörpert und nun vom entsprechend jüngeren Tom Blyth übernommen, kann Ruf und Reichtum für seine Familie wieder herstellen, wenn er sich als Mentor für eines der Tribute bei den kommenden Spielen bewährt. Ihm wird Lucy Gray zugeteilt, eine Sängerin aus Distrikt 12, der Distrikt mit den geringsten Erfolgsaussichten. Aber Coriolanus hat auch weitergehende Ideen für die Spiele, was die ungeteilte Aufmerksamkeit der Spielmacherin Volumnia Gaul erregt.
Wenn der Verlauf absehbar ist, die einzelnen Handlungsteile vorhersehbar sind, und der Ausgang schon acht Jahre vorher in digitalen Stein gemeißelt wurde, wie spannend kann da der Film sein? Er ist es nicht. In extrem ausladenden 160 Minuten kann Regisseur Francis Lawrence nichts an notwendiger Innovation einbringen, was er nicht schon in den letzten drei Filmen an Inspiration aufgebraucht hat. In weiten Teilen hat SONGBIRDS AND SNAKES den Anschein eines bewegten Storyboards, dass darauf wartet mit Gespür für die Momente und inszenatorischer Finesse realisiert zu werden.
Viel zu sehr klammert sich der Film an Wiedererkennungsmerkmalen der vorangegangenen Quadrologie. Moderator Flickerman, hier Jason Schwartzman als Ahne von Stanley Tucci. Oder Designerin Tigris, bei der Hunter Schafer die Coriolanus‘ Schwesterrolle von Eugenie Bondurant übernommen hat. Jede Menge absurde Frisuren, extravagante Kostüme, viele eigenartige Namen, und selbst das Exterieur der Distrikte ist trotz 65 Jahren Abstand unverändert. Letztendlich ist es aber die unverständliche Laufzeit, die bei diesem Film wirkliche Ermüdungserscheinungen auslösen.
Rachel Zegler und Tom Blyth sind eine Paarung, die bei vielen anderen Filmen in anderen Genres sehr gut funktioniert hätte. Aber Coriolanus ist einfach zu flach und uninteressant geschrieben, als das Blyth mit dessen Attitüde von Unsicherheit und Zurückhaltung eine Heldenfigur erschaffen könnte, und was er selbst im emotionalen Finale nicht aufzufangen versteht. Und Rachel Zegler fehlt einfach das rohe und ungeschliffene Wesen, um als rebellische Sängerin aus dem ärmsten der zwölf Distrikte zu überzeugen. Sie kommt mit ihrer Figur Lucy Gray Baird einfach nicht über schematische Manierismen hinaus.
Coriolanus Ambition liegt darin, den Ruf seiner Familie zu retten, der durch Betrug verloren ging, was ihn in die Hände des Systems treibt. Er wird zum Spielball zwischen Spielmacher und Spielerfinder. So hangelt sich die Geschichte von Intrigen zu selbstgefälligen Überheblichkeiten, über Lügen zu Verrat. Mit jedem Punkt den die Handlung erreicht, wird schon der nächste klar ersichtlich. Überraschungen umgeht der Handlungsverlauf ziemlich weitläufig. Was die lange Laufzeit nur noch länger erscheinen lässt. Die ebenso absehbare Charakterentwicklung kann hier kaum entgegen wirken.
Lediglich das Spiel selbst, dass unangebracht im Mittelteil angesetzt ist, schafft für einige Minuten gut inszenierte Action. Das Hungerspiel erreicht durch Jo Willems starke Bildgestaltung eine spannende Dynamik, wenn die fliegende Kamera den Figuren quer durch die riesige Arena folgt. Bei anderen Gelegenheiten sind Willems Entscheidungen eher fragwürdig. So sind in vielen Einstellungen die Gesichter viel zu nah abgelichtet, was in Verbindung mit der großen Leinwand einen unangenehmen Effekt erzeugt. Ansonsten ist die allgemeine technische Leistung eher effizient als innovativ.
Doch am auffälligsten ist das Versagen an dem vorgeschobenen Kernthema, bei dem die schwindenden Einschaltquoten Auslöser für Coriolanus‘ Ein- und Aufstieg sein werden. Es gibt einen bedeutsamen Film von Peter Weir mit Jim Carrey, der dieses Thema vor allem im Bereich des Zielpublikums am Bildschirm sehr adäquat zu behandeln weiß. Vergleiche sind nicht immer angebracht, aber im Fall von SONGBIRDS AND SNAKES drängt er es sich förmlich auf. Denn den gesamten Film über sieht man weder einen fernsehenden Zuschauer, noch gibt es irgendwelche öffentliche Reaktionen auf die Hungerspiele.
THE BALLAD OF SONGBIRDS AND SNAKES ist eines der ganz seltenen Fälle, bei der die Adaption mit der Romanvorlage weitgehend übereinstimmt. Das produzierende Studio Lionsgate hat auch mit Autorin Suzanne Collins während des Schreibens zusammengearbeitet. Doch was sich auf dem Papier hervorragend lesen lässt, muss nicht zwangsläufig gutes Filmmaterial ergeben. Nach den überzeugenden MOCKINGJAY-Teilen der ersten Quadrologie, geht das nicht richtig mit dem Talent von Regisseur Francis Lawrence zusammen. SONGBIRDS AND SNAKES hat in allen Bereichen Defizite.
Es hat auch viel von einer gutgemeinten Persiflage, wenn Rachel Zegler immer wieder in Gesang ausbricht. Sicherlich gibt das ebenfalls der Roman vor, aber bekannt geworden mit der neuen WEST SIDE STORY, nimmt sich dieser Umstand unfreiwillig komisch aus, wie die Zegler-Version eines dieser Elvis Filme, die nur Schallplatten verkaufen sollten. Rachel Zegler hat einfach nicht die Stärke, die komplexe Waage zwischen Anspruch und Popcorn-Kino zu tragen. Jennifer Lawrence hat mit ihrem charismatischen Wesen die Filmreihe definiert. Hier versucht die Filmreihe vergeblich die Figuren zu definieren.
THE HUNGER GAMES: THE BALLAD OF SONGBIRDS AND SNAKES
Darsteller: Tom Blyth, Rachel Zegler, Josh Andrés Rivera, Viola Davies, Peter Dinklage, Jason Schwartzman, Hunter Schafer, Fionnula Flanagan u.a.
Regie: Francis Lawrence
Drehbuch: Michael Arndt, Michael Lesslie
Kamera: Jo Willems
Bildschnitt: Mark Yoshikawa
Musik: James Newton Howard
Produktionsdesign: Uli Hanisch
167 Minuten
USA 2023
Bildrechte: LEONINE DISTRIBUTION