THE SECRET GARDEN – Bundesstart 15.10.2020
Wer auch nur im Entferntesten schon einmal von Frances Hodgson Burnetts DER GEHEIME GARTEN gehört hat, dürfte von selbst erahnen, dass diese Geschichte ein breites Spektrum von Interpretationen zulässt. Da ist der Garten an sich, die charakterlichen Eigenschaften der Kinder, oder das Rotkehlchen, die seltsam abweisenden Erwachsenen, und in dieser Verfilmung natürlich der Hund. Aber da ist noch das Leben, und der Tod im Besonderen. Das sind allesamt keine einfachen Themen, Metaphern und Auslegungen für eine empfohlene Leserschaft zwischen acht und elf Jahren. Aber es sind spannende Themen und zudem sehr anregend. Wenngleich kein durchweg freudestrahlendes, oder leichtes Erlebnis.
Der in den letzten Jahren am ehesten mit HIS DARK MATERIALS auffällig gewordene Jack Thorne hat die mittlerweile sechste Leinwandadaption, nebst einer Vielzahl von TV-Umsetzungen, verfasst und dabei nicht an unangenehmen Szenen und Dialogen gespart. Die Handlung ist zeitlich etwas näher an unsere verlegt worden und zeigt die junge Britin Mary alleine gelassen, hungrig und verstört in ihrem indischen Refugium. Der Krieg zwischen Indien und Pakistan beginnt und die britischen Kolonialisten haben jeden Stand verloren. Was aus Marys Eltern wurde wird man später erfahren, aber vorerst versetzt uns Regisseur Marc Munden in die Position eines Kindes, dem jede Orientierung oder Kontext zu den Ereignissen fehlt.
Munden hat wie sein Autor Thorne ebenfalls hauptsächlich für das Fernsehen gearbeitet, was man durchaus an der bildlichen Auflösung der Charakter-Szenen bemerkt, wo Nahaufnahmen schlichtweg zu nah erscheinen. Auf der anderen Seite scheint man in der Inszenierung auch so etwas wie einen Befreiungsschlag aus der optischen Restriktion des Bildschirms wahrnehmen zu können. Denn ist Mary erst einmal zu ihrem desinteressierten und phlegmatischen Onkel Archibald Craven nach England gebracht worden, werden wir mit Lol Crawleys Kamerabildern konfrontiert, die uns als Beobachter fast klein erscheinen lassen. An manchen Stellen sogar unbedeutend. Eines der unaufdringlicheren Kernelemente der Geschichte: dass wir alle nur ein Teil des großen Ganzen sind.
Der Landsitz Misselthwaite ist trostlos, grau und scheint übermächtig. Die Spuren des Zweiten Weltkrieges sind noch auf dem Anwesen sichtbar. Die langen, verwinkelten Flure mit ihren hohen, kaum sichtbaren Decken sind nicht einladend, sondern schüchtern ein. Und die opulenten Bilder versetzen uns mitten in diese bedrückende Atmosphäre. Auch wenn es Bedienstete gibt, und den abweisenden Onkel, verliert sich das schrecklich verwöhnte Kind in einer noch hoffnungsloseren Einsamkeit. Die unselbstständige Mary lernt sehr schnell, dass eine emotionale Flucht nur mit einer eigen auferlegten Disziplinierung in Sachen Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Eigenständigkeit möglich sein wird.
Bis Mary jenen Garten entdeckt, der von Mauern umgeben scheint, aber im Inneren wie eine eigene offene Welt wirkt, die endlos scheint. Hier legt Crawley optisch noch einmal nach. Er lässt nicht Mary diese von magischer Intensität erfüllte Natur erkunden, sondern uns. Wir werden auch nicht sofort verstehen, aber nach und nach. Dabei hält der Film immer die Waage zwischen Bodenständigkeit und übernatürlichen Einflüssen. Der Garten ist fremd und anziehend zugleich. Er braucht uns nicht, die Natur hat uns noch nie gebraucht, aber wenn wir uns ein wenig kümmern, hier und da etwas richten, dann sind wir Teil davon. Aber zu keinem Zeitpunkt versucht der Film ein aktuelles Statement, auch keine Belehrung oder philosophische Bemerkung. Dennoch ist der Garten ein Heilmittel, für Körper und Geist. Man muss nur den Weg dorthin finden, es zulassen. Doch Marc Munden verweigert strikt den belehrenden Zeigefinger.
Tatsächlich hat das Produktionsdesign kein Fantasiegebilde geschaffen, sondern die einzelnen Elemente aus den schönsten und beliebtesten Gartenanlagen Großbritanniens entnommen. Und wie der Garten auf äußere Einflüsse reagiert, ist nochmal einmal von ganz besonderer, oft subtiler Raffinesse geprägt. Dies vorweg zu nehmen würde sehr viel von der magischen Kraft der Inszenierung nehmen. Doch es erfordert auch eine gewisse Aufmerksamkeit. Hier versetzt uns der Film selbst in eine Position, wie sie der Garten den Protagonisten auferlegt. Wir dürfen nicht alles einfach als gegeben hinnehmen, sondern wir sollten aufmerksam sein und bleiben.
Weit gefehlt wer glaubt der Garten könnte alles richten, die Erzählung könnte an dieser Stelle mit einer moralischen Deutung enden. Nicht der Garten ist Dreh- und Angelpunkt der eigentlichen Ereignisse, sondern die düstere Hoffnungslosigkeit innerhalb der Mauern von Misselthwaite. Es geht um Tod, Verlust und Angst. Immer wieder kehrt die Handlung von der Unbeschwertheit des Gartens in die erdrückende Atmosphäre des Hauses zurück. An vielen Stellen scheint die Altersfreigabe ab sechs Jahren sehr fragwürdig. So befreiend und wundervoll der Garten wirkt, so eindringlich konfrontiert uns der Film auch thematisch mit seinem Kernthema, das manchmal schmerzt und doch nicht ignoriert werden kann.
Vielleicht mag die Altersfreigabe fragwürdig sein, aber Marc Munden kann uns auch in diesem Bezug mit seinem Film in eine Lage versetzen, die er eigentlich als Inhalt führt. Dass man sich am Ende vielleicht unangenehmen Fragen stellen und damit auseinandersetzen muss, die DER GEHEIME GARTEN gar nicht erklären kann, aber auch gar nicht will. So sehenswert, eindringlich und optisch brillant der Film inszeniert ist, soll dies nicht über seine manchmal sehr bedrückende und wenig einladende Atmosphäre hinwegtäuschen. Bei allem vorgeschobenen Zauber ist es kein einfacher Film, welcher sich allerdings immer erklärt und Rechtfertigung findet.
THE SECRET GARDEN – DER GEHEIME GARTEN
Darsteller: Dixie Egerickx, Colin Firth, Julie Waters, Edan Hayhurst, Amir Wilson, Isis Davis, Maeve Dermody u.a.
Regie: Marc Munden
Drehbuch: Jack Thorne, nach Frances Hodgson Burnett
Kamera: Lol Crawley
Bildschnitt: Luke Dunkley
Musik: Dario Marianelli
Produktionsdesign: Grant Montgomery
Großbritannien – Frankreich – USA – China 2020
98 Minuten
Bildrechte: StudioCanal