Keine Werbung. Die gibt es nicht beim Sender ARTE, aber auch keine für seine Sendungen. Es mag sein, dass der deutsch-französische Spartenkanal sein Stammpublikum hat, aber das darf nie genug sein. Nicht für öffentlich-rechtlich finanzierte Sender. Diese dürfen nicht einfach nur stur ihrem Auftrag von Bildung, Unterhaltung und Information nachgehen, sondern müssen auch vermitteln das sie diesem Auftrag nachgehen, um wenigstens eine gewisse Akzeptanz beim ohnehin kritischen Zuschauer zu erreichen. In Sachen Unterhaltung wäre das zum Beispiel, dass man der Öffentlichkeit demonstriert, ein Wagnis einzugehen, wo andere Sender eher zurückhaltend reagieren. Immer wieder fällt auf, dass eine außergewöhnliche und auffallende TV-Produktion lange schon ein eigentlich alter Hut ist, weil diese bereits vorweg bei ARTE ausgestrahlt wurde. Andere Sender plakatieren zumindest ordentlich. ARTE tut dies nicht, eventuell um Geld zu sparen. Wäre löblich, aber kontraproduktiv. Wie bei RECTIFY, einer genialen Drama-Serie, die von sich durchaus behaupten kann, etwas wirklich eigenständig Neues auf den Bildschirm zu bringen.
Mit 18 Jahren wurde Daniel Holden wegen Mordes an seiner Freundin zum Tode verurteilt. Neunzehn Jahre später wird Daniel auf Grund von neuen DNS-Beweisen aus dem Todestrakt entlassen. Doch es ist keine Erfolgsgeschichte, die bei anderen Filmen das siegreiche Finale bedeuten. Denn Staatsanwaltschaft und die auch damals ermittelnden Polizeikräfte sind überhaupt nicht erfreut darüber, dass man ihnen mit Daniels Freilassung plötzlich Versagen vorwerfen könnte. Grundsätzlich gibt es in dem kleinen Ort in Georgia nur zwei Lager gegenüber dem Fall Daniel Holden. Die, die schon immer von seiner Unschuld überzeugt waren, und die, welche so verbohrt an Daniel als Täter glauben, dass selbst neue Beweise keinen Einfluss auf ihre Meinung haben können. Dazwischen steht ein Mensch, der nicht einzuschätzen weiß, wo sein neuer Platz im Leben ist.
RECTIFY könnte ein exzellentes Justiz-Drama sein, mit viel »Einspruch euer Ehren«, Überraschungszeugen, und trickreichen Wendungen. An all dem ist RECTIFY nicht im Geringsten interessiert. Die Serie bleibt bis zum Zeitpunkt der hier geschriebenen Worte nach Folge zwei, nur am Menschen, und an seiner bisher unbekannten Erzähl-Intuition. Gefängnisdramen befassen sich stets mit der Psyche eines Delinquenten, dem die Freiheit genommen wird, und der sich einer neuen und extrem feindlichen Umgebung anpassen muss. Doch was passiert mit einem Menschen, der mehr als die Hälfte seines Lebens ohne Sonnenlicht in einem zehn Quadratmeter großen, weiß gestrichenen Raum verbringt? Daniel Holden wurde mit achtzehn Jahren inhaftiert. Zu diesem Zeitpunkt ist man nicht wirklich erwachsen, hat keine übermäßige Lebenserfahrung. Das war im Jahre 1995. In dieser Zeit gab es kaum Personal-Computer in den Haushalten. Keine in Deutschland sogenannten Handys. Flipflops waren bestimmt noch keine Modeerscheinung. An Flachbildschirme war erst gar nicht zu denken. Skateboards zu dieser Zeit erst längst abgeschrieben.
Daniel Holden in dieser veränderten Welt zu beobachten ist unglaublich spannend. Es geht tief, nicht nur sein Schicksal, sondern die eigene Erkenntnis, welche Entwicklungen innerhalb einer Generation stattgefunden haben. Entwicklungen, mit denen ein in Freiheit lebender Mensch gewachsen ist. Aber ein von der Außenwelt isolierter Häftling im Todestrakt, bleibt davon vollkommen unberührt. Bis er unvermittelt in die Freiheit entlassen wird. Das demonstriert RECTIFY ganz intensiv, zuerst mit seiner packenden Inszenierung, und schließlich mit seinem herausragenden Hauptdarsteller Aden Young. Ein charismatischer Schauspieler, dem es bisher nicht vergönnt war, einem breiterem Publikum größer aufzufallen. Kameramann Paul Sommers inszeniert viele Szenen mit Daniel im Mittelpunkt in lang stehenden und weitwinkligen Einstellungen. Sie symbolisieren sehr eindrucksvoll die grenzenlose Freiheit, die einem Individuum gegeben ist. Auf Daniel selbst bezogen, verkörpern diese Bilder seine große Hilflosigkeit gegenüber einer Welt, die zu groß für ihn geworden ist.
Wessen sich die Macher von RECTIFY verweigern, ist die Auflösung von Daniel Holdens Schuld oder Unschuld. Ein Mann der derart traumwandlerisch durch die aktuelle Zeit stolpert, der ist einfach nicht zu durchschauen, den kann man nicht wirklich begreifen. Die Serie funktioniert über Daniels Unsicherheit, und auch seinem naivem Vertrauen gegenüber seiner Umwelt, was eine erweiterte Ebene von Spekulation und Misstrauen zu öffnen versteht. Daniel kennt keine Ironie, doch woher auch. Daniel kennt auch keine wirklichen Lügen, wirklich erwachsen geworden ist er in einer Welt, wo Lügen keinen Bedarf fanden. Äußerst geschickt nutzen Autor und Schöpfer Ray McKinnon und die Regisseure Gordon und Gierhart Daniel Holdens verunsicherten Gang im neuen Leben, um ihn gleichzeitig als simplen Simon, aber auch als eventuell hochgradig gefährlichen Psychopathen möglich zu machen. Der Zuschauer wird immer wieder in die Ecke gedrängt, seine Stimme für Daniel zu erheben. Aber die nicht zu berechnenden Schreiber streuen auf perfide und manipulative Weise immer wieder Zweifel gegenüber dem vermeintlich Unschuldigen.
Genauso ködert man ein Publikum, indem man diesem etwas Neues, etwas Einzigartiges bietet. Wenn man viel mit Gefühlen, aber auch mit der Erwartungshaltung spielen kann. Um Daniels Zeit im Todestrakt zu zeigen, vermischen sich immer wieder Rückblenden in die Zelle mit dem aktuellen Geschehen. Wodurch immer wieder Parallelen oder auch eventuelle Weiterentwicklungen im Charakter der Hauptfigur intensiviert und näher beleuchtet werden. Die Serie fällt zurück auf eine kaum noch genutzte Erzählstruktur, welche sich ihrer Figuren und deren Geschichte verschrieben hat. Wo man dem Charakter mehr Bedeutung zugestand, als einer verschachtelten Handlung. Die Handlung ist sogar erstaunlich geradlinig – doch sie funktioniert und fesselt ungemein. In Zeiten, wo nicht wenige TV-Serien die Qualität von hochinszenierten Kino-Produktion weit hinter sich lassen, sollte man dabei RECTIFY unbedingt mit im Auge haben. Mit den Folgen drei und vier geht es am 23.10.14 weiter, und am 30.10.14 kommen die letzten beiden Episoden fünf und sechs bei ARTE. Zu den »besten Sendezeiten« von 22:45 Uhr und 22:30 Uhr. Auch das ist einer derart unbekannten Serie nicht sehr förderlich. Während ARTE dieses außergewöhnliche Produkt verramscht, können sie die DVD-Verkäufer die Hände reiben, wenn sich erst im Nachhinein herumspricht, was man mit RECTIFY versäumt hat.
RECTIFY von Ray McKinnon
Darsteller: Aden Young, Abigail Spencer, J. Smith-Cameron, Clayne Crawford, Adelaide Clemens, Bruce McKinnon, Luke Kirby, Jake Austin Walker u.a.
Regie Episoden 1 & 2: Keith Gordon, Bill Gierhart
Drehbuch Episoden 1 & 2: Ray McKinnon
Kamera: Paul M. Sommers
Bildschnitt: Hank Van Eeghen, Travis Sittard
Musik: Gabriel Mann
Produktionsdesign: David Blass
ca. 45 Minuten
USA 2013
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