Gleich vorweg, die Buchbranche ist Big Business – ganz egal, was der sympathische Buchhändler ums Eck auch erzählt. Jahr für Jahr erwirtschaftet allein der Buchhandel einen Umsatz von sage und schreibe zehn Milliarden Euro, und das nur in Deutschland. Auslandsgeschäfte, Lizenzverkäufe und Merchandising deutscher Buchverlage nicht mitgezählt. Amazon und die etablierte Buchbranche inszenieren öffentliche Rosenkriege und profitieren doch zugleich an den 50 – 60 Prozent-Margen (Buchhändlerrabatt), die ihnen das Buchpreisbindungsgesetz ermöglicht. Nach außen markieren sie Feindschaft, nach innen hin eint sie das gemeinsame Ziel der guten Geschäfte. Ein Gesetz aus dem letzten Jahrtausend – die Buchpreisbindung – schweißt alle zusammen. In der Branche herrschen die klassischen Spielregeln eines Kartells: Man streitet sich, man verklagt sich – und dann legt man sich doch wieder ins gemeinsame Bett.
Es gibt aber jemanden, der vor allen anderen die Strippen zieht, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, der die Preise festsetzt und der immer verdient, egal wer was wo verkauft. Dieser mächtigste aller Player im Spiel, wenn man so will, dieser Player heißt: Buchverlag. Er ist quasi die Dame im Schachspiel um den König Kunden. Wo es aber eine Dame und einen König gibt, dort muss es auch zwingend Bauern geben.
Zu Hause bei Lieschen Müller
Wenn Lieschen Müller von der Arbeit nach Hause kommt, zieht sie sich gerne auf die gemütliche Couch zurück, um noch genüsslich in einem Buch zu lesen. Langsam aber sicher vertreibt die Lektüre den vielleicht gar nicht mal so spannenden Alltag, die möglicherweise sogar ärgerlichen Erlebnisse des Tages aus ihrem Kopf. Sie entspannt sich, lehnt sich zurück, und empfindet es als einen Genuss, wenn sich der Wasserkocher aus der Küche meldet, denn er verspricht einen bekömmlichen, wohltuenden Tee zur guten Lektüre. Der besinnliche Abend könnte nun kaum noch besser werden. Noch nicht einmal der nervende Nachbar vermag sie jetzt noch aus der Ruhe bringen. Ein kleines Paradies. Das ist alles, was Frau Müller braucht, um glücklich zu sein.
Noch zwei Klicks. »Müllers Buchblog« hat einen Beitrag mehr. Schon bald wird sie sich mit Freundinnen austauschen.Doch schon bald naht das Ende. Das Buchende, die letzte Seite. Mit leichtem Erschauern schließt Frau Müller den Buchdeckel. Das wohlige Gefühl, Teil einer fremden, abenteuerlichen, anregenden, überraschenden, einer glücklichmachenden, Geschichte geworden zu sein, droht zu einer fernen Erinnerung zu verblassen. Doch nicht mit Frau Lieschen Müller! Kurzerhand klappt sie ihren Mac auf, tippselt ihre Erinnerungen, ihre Empfindungen hinein. Noch zwei Klicks. »Müllers Buchblog« hat einen Beitrag mehr. Schon bald wird sie sich mit Freundinnen austauschen. Die Geschichte quasi weitererzählen. Ein neues Kapitel hinzufügen, auf einer Metaebene. Die Helden der letzten Tage werden in ihrem Kopf wieder lebendig. Ja, sie werden sogar Teil der großen weiten Welt dort draußen – noch dazu mit ihr selbst im Mittelpunkt. So schön kann das Leben einer Buchbloggerin sein.
Die Welt dort draußen
Schon seit ein paar Jahren tut sich was. Buzzwords wie »Digitale Revolution«, »Disruption« oder »Verlage 2.0« machen die Runde. Dort draußen. Das interessiert Frau Müller nicht. Beim Hipsterwort »Blogosphäre« macht sie jedoch innerlich einen Schritt zurück. Eine kurze Pause. Sie hält inne. Bin das nicht ich?Hier endet der kitschige Hollywood-Plot über Frau Müller, denn es gibt kein Happy End. Oder, wie es Hitchcock einmal süffisant ausdrückte: »Das Happy End ist dort, wo ich ‘The End’ hinschreibe.«
Frau Müller tat vor einem Monat etwas, das ihr Leben nachhaltig verändern würde. Sie entschied sich in diesem Jahr zur Teilnahme an der Leipziger Buchmesse. Teilzunehmen am Markt der Eitelkeiten um Bücher, Schriftsteller und Verlage – das Wörtchen »Markt« hatte sie allerdings im Prospekt in der ganzen Aufregung überlesen. Also: Nichts wie hin!
Szenenwechsel – Big Business
Der Markt ist schließlich für die Unternehmen da, nicht für die Kunden. Oder war´s doch anders herum?In den Führungsetagen der Buchverlage und Buchhändler stellen sich Marketingverantwortliche seit nicht allzu langer Zeit genau dieselben Fragen wie Frau Lieschen Müller: Was bedeuten die Buzzwords »Digitale Revolution«, »Disruption« und “Niedergang der Verlage” eigentlich wirklich? Was bedeuten sie für unser Geschäft? Denn einzig Amazon hatte darauf bisher klare Antworten gegeben. Ja, Amazon selbst war im Prinzip zur Antwort geworden – und zwar zu einer gefährlichen.
Erschreckende Details kommen ans Licht: 50% aller Bücher, die online verkauft werden, liefert inzwischen der Versandriese an den Kunden aus. Die Schmerzgrenze ist erreicht. Alarmstufe Rot! Kundenbeschimpfung hatte nichts bewirkt. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Der Markt ist schließlich für die Unternehmen da, nicht für die Kunden. Oder war´s doch anders herum?
Es kommt wie es kommen musste. Ein Meeting jagt das andere. Werbeagenturen, Marketingexperten und digitale Evangelisten geben einander die Klinke in die Hand und verdienen ordentlich Geld (das sie sich auch verdient haben, keine Frage). Dann, am Ende des Tages, ward die Lösung für die Probleme gefunden. Kein Scherz: Die Lösung lautete, so schlicht wie ebenso erbärmlich: »Wir müssen Amazons Geschäftsidee der Kopplung Buchhandlung-Verlag-Kunde kopieren.« Kopieren. That’s it! Not.
Nicht die Bewerbung der Produkte (Bücher) sei für den erfolgreichen Verkauf im Netz verantwortlich, sondern die Kunden selbst!Bereits im Jahr 2004 formulierte der damalige Chefredakteur des Magazins WIRED, ein genialer HubEr und späterer CEO, Chris Anderson, nicht nur das Problem, vor dem sich unsere Herrschaften in der Buchbranche gar so fürchten. Nein, er hatte sogar schon eine Lösung parat: Er postulierte seine sogenannte »Long-Tail-Theorie«. Diese besagt – kurz gefasst, dass »weniger die Werbebotschaften der Produzenten als vielmehr die Beurteilungen durch sogenannte Peers über den Erfolg eines Musikstücks oder eines Künstlers entscheiden.« Sprich: Nicht die Bewerbung der Produkte (Bücher) sei für den erfolgreichen Verkauf im Netz verantwortlich, sondern die Kunden selbst! Ihre Reputation, ihre – um es herunterzubrechen – Rezensionen auf Amazon … Und das Entscheidende dabei: es spielt überhaupt keine Rolle, welche Größenordnung die Reichweite der Rezension im Netz zunächst annimmt. Suchmaschinen übernehmen nämlich diesen Teil der Arbeit im Laufe der Zeit ganz von selbst. The long tail …
Das war vor inzwischen zwölf Jahren. Eine Ewigkeit im digitalen Zeitalter. Eine Branche, die sich längst im Filz der Buchpreisbindung verheddert hat, blickt nun mit Argusaugen auf andere Zweige des Einzelhandels. Egal, ob in der Bekleidungs‑, Möbel‑, Unterhaltungs‑, oder auch Schuhbranche. All diese Branchen haben längst die Zeichen der Zeit erkannt: Marketing ist alles! Und die einzige, echte Währung im Internet-Neuland heißt »Reichweite« – im Fachjargon: »Reach«.
Die Buchbranche goes Schuhfachverkäufer – oder besser: Staubsaugervertreter
Alles Kommerzielle muss nämlich gut versteckt sein, wenn es um das Kulturgut Buch geht.Der Schlüsselbegriff in der Marketingbranche lautet »Content-Marketing«. Kein Mensch klickt nämlich mehr auf klassische Werbeanzeigen. Auf diese Prämisse baut auch die Long-Tail-Theorie auf, sodass man die Bedeutung der beiden Begriffe in der Anwendung inzwischen fast nicht mehr unterschieden kann. Diesen Umstand haben in den letzten 12 – 24 Monaten eben auch die Buchverlage und Buchhandelsketten in großem Stil erkannt. Sie setzen nun darauf, so wie eben auch ein Schuhfachverkäufer oder ein Staubsaugervertreter auf dieses Marketing-Konzept setzen würde um Leads zu generieren (»Leads« ist ein Angeberanglizismus für Geschäftsanbahnung).
Die Buchbranche geht deshalb einen Schritt weiter. Sie tut nach außen hin so, als ob sie von all dem keine Ahnung hätte! Sie verschleiert ihre Motive. Sie tut so, also ob es ihr nur darum ginge sich gegenseitig zu herzen, wenn man Frau Lieschen Müller ein Rezensionsexemplar zuschickt, weil wir uns alle doch ach so lieb haben. Alles Kommerzielle muss nämlich gut versteckt sein, wenn es um das Kulturgut Buch geht.
Die Gretchenfrage
Was würde es ein Unternehmen kosten, so etwas wie, sagen wir mal, Lieschens Buchblog eigenständig zu finanzieren und aufzusetzen?Nehmen wir an, dieser Buchblog hätte ganz bescheidene 100 »Follower«. Ja, nicht mehr. Und diese Follower würden auch nur ganz bescheiden – eben aus Lust und Spaß an der Freude – offen in den Netzwerken darüber kommunizieren. Sharing is caring. Sagen wir, nur 20 engste Bekannte und Freunde machen das. Die erreichen wiederum nur zwei Leute, die darüber reden. Dann kämen wir in Summe auf etwa 102 Menschen – im Fachjargon sogenannte »Reachs«. Schaut nach nicht viel aus, oder?
Wie hoch wären für diesen simplen Corporate Blog die Kosten?
Einrichtung eines Büros, Lohn für die Marketingmitarbeiterin, Kosten für technische Herstellung des Blogs und die Kosten für die Software. Die Kosten für das Unternehmen wären bei mindestens 500 Euro anzusetzen. Monat für Monat, wohlgemerkt.
Was kostet Frau Lieschen Müller?
Ein Rezensionsexemplar. Punkt. Abzüglich Buchhändlerrabatt und Steuern natürlich. Über den Daumen bleiben im Schnitt ganze 10 Euro an Kosten hängen (bei einem Ladenverkaufspreis des Buches von beispielsweise 24 Euro bei einem Hardcover), die aber auch noch in der Marketingbilanz aufscheinen dürfen – also schon längst in den Unternehmenausgaben eingepreist sind. Bei Taschenbüchern oder eBooks sind die Kosten geringer.
10 Euro (einmalig) vs. > 500 Euro (dauerhaft)
Doch die Rechnung geht weiter! Bei einem wie oben bescheiden kalkulierten Reach von 102, kostet die Werbebotschaft pro erreichtem Kopf nicht einmal 10 Cent. Da schnalzen bereits die Zungen der Budgetverantwortlichen bis rüber zur Buchmesse.
oder auf Deutsch: Man erreicht die Zielgruppe direkt und treffsicherDie Rechnung geht allerdings noch viel weiter. Verlassen wir kurz Frau Müllers Blog und stellen uns einen Blog vor, der 1000 Follower für sich in Anspruch nimmt. Eher die Regel, als die Ausnahme. Die Kosten sinken auf nicht einmal 1 Cent/Reach. In der Praxis wird jedoch der sogenannte »Unique Visitor« zur Grundlage der Reichweite bevorzugt, da kommt man schnell mal auf 2000 Visits. Die Kosten für den Reach können dann gar nicht mehr in Cent formuliert werden, so gering fallen sie aus. Solche Tausenderkontakterpreise existieren noch nicht mal in den feuchtesten Träumen der Werbe- und PR-Treibenden dieser Welt – noch dazu kommen sie ohne jeden Streuverlust im »Zielgruppen-Targeting« aus (oder auf Deutsch: Man erreicht die Zielgruppe direkt und treffsicher).
Man reibe sich jetzt ruhig die Augen, denn es kommt noch etwas: Was passiert, wenn man diese Reichweiten mit dem Faktor 1000 multipliziert? Ein renommierter Verlag kann nämlich locker 500‑1000 Blogger mit Rezensionsexemplaren gleichzeitig bedienen. Monat für Monat. Addiert man dann noch die kostenlosen SEO-Effekte hinzu, welche sich für die Verlagsseiten auf der Stelle auswirken, etwa Verlinkung etc., versteht man sofort, weshalb die Buchbranche das Kulturgut Buch nur noch wohlfeil anpreist, wenn es gerade passt, hinter den Kulissen jedoch schon längst als kulturgutferner Staubsaugervertreter agiert.
Wo ist das Problem?
Aber was macht das schon? Hauptsache der Rubel rollt. Für die Rattenfänger.Nun, Lieschen Müller hat von all diesen Umtrieben keine Ahnung – und es gehört auch nicht zu ihren Aufgaben, darüber Bescheid wissen zu müssen. Die einen verdienen Millionen, die anderen nicht. Die Welt ist ungerecht. Ok. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass ein Rezensionsexemplar eine geldwerte Sachleistung darstellt, die auch noch regelmäßig angenommen wird, dann kommt Frau Lieschen Müller möglicherweise doch noch in die Bredouille. Es droht nämlich Ärger vom Finanzamt. Weshalb? Nun, die Annahme einer geldwerten Sachleistung macht ihren Blog möglicherweise zu einem Corporate Blog. Einer Art Werbeplattform, die sie anzeigepflichtig beim Finanzamt macht. Oder zur Steuer- und Abgabenhinterzieherin. Je nachdem.
Aber was macht das schon? Hauptsache der Rubel rollt. Für die Rattenfänger. Was bleibt für Frau Lieschen Müller? Sie ist glücklich darüber, dass sie in Leipzig (oder Frankfurt) auch noch Eintritt bezahlen darf. Dafür, dass sie mitgenommen wird, ins Reich der schmeichelhaften Flötentöne der Selbstlosigkeit.
Frau Anonymus
Anmerkung des Herausgebers: Frau Anonymus arbeitet in der Branche und möchte deswegen nicht namentlich genannt werden. Ich hatte mich mit ihr über das Thema unterhalten, warum die Verlage seit einiger Zeit auf einmal Blogger so hyperaktiv hofieren und (nicht nur) in Leipzig geradezu hektische Aktivitäten zum Thema Blogger und Blogs aufziehen. Und mich mit Kooperationsanfragen überziehen. Nach einigen Antworten bat ich darum, das in einen Artikel zu verpacken. Das hier ist das Ergebnis. Vielen Dank dafür.
Die Erkenntnis daraus ist übrigens nicht, dass man seine Buchblogs einstellen und schmollen sollte. Die Erkenntnis ist vielmehr, dass man insbesondere den großen Verlagen als Blogger deutlich selbstbewusster gegenübertreten und sich nicht länger für Peanuts instrumentalisieren lassen sollte. Anders sieht die Lage übrigens bei Kleinverlagen aus, die keine gigantischen Werbebudgets haben, und auch nicht mal eben haufenweise Rezensionsexemplare streuen können.
Bild »Buchblogs & Verlage« von Stefan Holzhauer, CC BY-SA, Bild Blog mit Maus von Cortega9, aus der Wikipedia, CC BY-SA, Bild Blog Bunte Buchstaben von Christian Schnettelker, flickr, CC BY
Ein sehr gelungener Artikel, der mal die Motivation der großen Verlage deutlich darstellt.
Zum finanziellen Aspekt kommt noch hinzu, dass sich mit den vielen Rezensionsexemplaren Neuerscheinungen sehr gut im Markt verteilen und dort platzieren lassen.
Tatsache ist auch und das lässt sich bei einigen, wohlgemerkt nicht allen, Blogs beobachten, dass die Blogger fast nur nach der Diktatur der Verlage lesen. Nämlich ausschließlich die Bücher, die sie zur Rezension erhalten.
Für Kleinverlage sind die Blogger aber wirklich meist die einzige Option Werbung zu machen, vor allem wenn es sich um E‑Books handelt. Da sind teilweise verdammt gute Geschichten dabei. Man sollte ihnen eine Chance geben.
Ich mag das Schlusswort, das ist es ehrlich, wie der ganze Artikel auch.
VG
Jo
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