Anmerkung: diese Rezension erschien im April 2010 auf dem alten Artikelportal. Da das Buch durch die Diskussion um Überwachung und schwindende Bürgerrechte aktuell wie nie ist, habe ich mich entschlossen, die Rezension hier nochmals zu veröffentlichen. Und weil Jens Scholz die Aktion #oplittlebrother ausgerufen hat.
Ich lese ja gern und viel und gebe das offen zu. Es kann auch mal vorkommen, dass ein Roman so gut/spannend/unbeschreiblich ist, dass ich ihn in kurzer Zeit lese und darüber andere Dinge vernachlässige. Dennoch habe ich in den letzten Jahren festgestellt, dass mir das immer seltener passiert – auch Bücher, die mich wirklich fesseln, tun das lange nicht mehr in dem Umfang wie früher. Das ist auch kein Wunder, je mehr das Gehirn schon aufgenommen hat, je mehr man schon gelesen hat, desto schwieriger wird es zum einen überrascht zu werden und zum anderen kennt man halt dermaßen viele Werke und Ideen, dass wirkliche Neuerungen ausbleiben.
Cory Doctorows LITTLE BROTHER hat mich von den ersten Buchstaben an völlig weggehauen und ich habe mich in einer Geschwindigkeit durch diesen Roman gefräst, der mich selbst in der Nachschau völlig überrascht, denn ich hätte nicht mehr für möglich gehalten, dass mich ein Roman nochmal derart faszinieren kann, dass ich ihn in einem Rutsch in Nullzeit durchlese, dass es mir wirklich schwer fällt, ihn mal wegzulegen und dass ich dann jede Gelegenheit nutze, ihn sofort wieder in die Hand zu nehmen, um weiter zu lesen.
Dabei wird in LITTLE BROTHER kein Genre neu erfunden, weder die SF noch der Thriller oder das Jugendbuch. Dennoch ist der Roman außergewöhnlich: außergewöhnlich kurzweilig, außergewöhnlich realistisch und außergewöhnlich echt, was Situationen und Charaktere angeht. Ein waschechter Science Fiction-Roman, der im Heute spielt und mit heutigen Technologien arbeitet. Für wenig Technikaffine dürfte der Roman unterhaltsame Fiktion sein, wer sich auskennt weiß, dass alles was in diesem Buch beschrieben wird heute bereits machbar ist – und gemacht wird. Wenn das beim unbedarften Leser eine gewisse Paranoia auslöst: gut so!
Marcus Yallow ist ein ganz normaler siebzehnjähriger Teenager in einem San Francisco einer sehr nahen Zukunft. Er beschäftigt sich mit Computern und das so intensiv, dass er die Überwachungskameras der Schule ebenso leicht austricksen kann, wie die Schul-Laptops, die jeden Tastendruck und jede aufgerufene Webseite gnadenlos mitloggen und die Zugriffe zentral speichern. Er macht das aus Sportsgeist und aufgrund der Tatsache, dass er sich bewusst ist, was Privatsphäre bedeutet und wie sie missachtet wird.
Er hat andere ganz typische Hobbies, denen er zusammen mit seinen Freunden nachgeht: Musik, Onlinespiele, was man halt so macht. Und seine Freunde sind wie er mit Computer und Internet aufgewachsen und betrachten sie als etwas völlig Normales. Nein, eigentlich macht man sich darüber keine Gedanken – man denkt auch nicht darüber nach, dass man atmet.
Bei einer Session eines Onlinespiels, das mit einer Art Real-Life-Geocaching an Offline-Orten einher geht, hören er und seine Freunde eine mächtige Explosion, kurz darauf werden die Bürger der Stadt aufgefordert, Schutzräume in der BART (Bay Area Rapid Transit, eine Art U‑Bahn) aufzusuchen. Es kommt zu einer Panik, die Kids haben Sorge um ihr Leben, stemmen sich gegen den Strom der Flüchtenden, nachdem sie schon in einer BART-Station waren, und als sie wieder an die Oberfläche kommen, müssen sie entsetzt feststellen, dass ihr Freund Darryl offenbar im Strom der Flüchtenden ein Messer in den Bauch bekommen hat.
Marcus versucht, ein Rettungsfahrzeug aus dem ständigen Strom der Polizei- und Krankenwagen aufzuhalten, wird aber ignoriert; als er sich beim nächsten auf die Straße stellt, um es aufzuhalten, bemerkt er zu spät, dass es sich um ein militärisches Fahrzeug handelt. Ihm und seinen Freunde werden schwarze Säcke über den Kopf gezogen und sie werden kassiert. Das Flehen, Darryl zu helfen wird ignoriert.
Marcus und seine Freunde sind in die Fänge des Department Of Homeland Security geraten, das in SF die Kontrolle übernommen hat, nachdem Terroristen die Bay Bridge und die unterseeische BART-Röhre gesprengt haben. Jeder ist verdächtig, die Kids bekommen das aus erster Hand zu spüren, denn als Marcus sich weigert, die Passworte für seine elektronischen Geräte offen zu legen (jeder, der sowas hat und die Zugangsdaten nicht sofort preis gibt ist verdächtig) wird er gefoltert.
Nach fünf Tagen wird er natürlich wieder frei gelassen, denn selbstverständlich konnte man ihm keine Mittäterschaft bei dem Bombenanschlag nachweisen. Man droht ihm: wenn er irgend jemandem erzählt, wo er die letzten Tage war und was ihm passiert ist, werden sie ihn wieder holen…
Marcus stellt fest, dass alle seine Freunde ebenfalls frei gelassen wurden, nur einer fehlt und von ihm ist keine Spur: Darryl. Als der Junge zudem feststellt, dass San Francisco zu einem Überwachungsstaat umfunktioniert wurde, in dem jeder Schritt der Bürger mit der Begründung »Schutz vor Terroristen« überwacht wird, entschließt er sich, mit den Mitteln der modernen Kommunikation und des Internets gegen das DHS und für Darryl zu kämpfen.
Alles was Doctorow in diesem Roman beschreibt ist so denkbar – sowohl das Vorgehen des Departments Of Homeland Security gegen amerikanische Bürger unter dem Deckmantel des Schutzes vor Terrorismus (wir erleben es bereits) wie auch die von ihm durchgeführte Nutzung der Ressourcen des Internet zur Schaffung eines Darknets und eines Web Of Trust, um Aktionen gegen die faschistoiden vorgeblichen Terrorbekämpfer zu starten und zu koordinieren, sowie zumindest einen Teil der Bevölkerung darüber zu informieren, was tatsächlich geschieht und wie man mittels Propaganda gefügig gemacht werden soll.
Der Kampf der Jugendlichen geht deswegen nicht allein gegen das DHS, dessen Schergen und die manipulierten Medien, sondern für sie erschreckender Weise auch gegen Eltern und Bekannte, die »dem Staat« nichts Böses unterstellen können und für die »das schon seine Richtigkeit hat, denn es geht gegen Terroristen!« Sie müssen feststellen, dass man Personen oberhalb eines gewissen Alters nicht trauen kann, weil die aufgrund lebenslanger Indoktrination einfach nicht verstehen können…
Doctorows Roman ist erschreckend realistisch, denn wir alle kennen die von den Antagonisten geäußerten Parolen, wir kennen sie gut aus unserem täglichen Leben. Er ist deswegen erschreckend realistisch, weil seine Charaktere fast hyper-glaubwürdig daher kommen, man kennt solche Leute, sowohl die »Guten«, wie auch die »Bösen« – verblendete Beamte ebenso wie Mitläufer und Denunzianten, die aus Unwissen, Dummheit oder falschem Patriotismus hurra schreien, wenn grundlegende Menschenrechte mit Füßen getreten werden – es geht ja um »etwas Größeres«.
LITTLE BROTHER macht keinen Hehl daraus, dass der Kampf gegen den Terrorismus zum einen nicht zum Selbstzweck werden darf und zum anderen auf gar keinen Fall dazu führen darf, dass man vor den Gegenmaßnahmen mehr Angst haben muss als vor der vorgeblichen Bedrohung. Und eine angebliche Terrorgefahr darf auch nicht dazu führen, dass unsere Bürgerrechte mehr und mehr eingeschränkt werden, ohne dass es wirklich nachvollziehbare Gründe dafür gibt. Doctorow spricht eine deutliche, wenngleich nicht fanatische oder polemisierende Sprache und genau das ist einer der überaus faszinierenden Punkte an diesem Roman: er will nicht mit den Methoden der »anderen Seite« überzeugen, er zählt einfach nur Fakten auf und verpackt sie ebenso wie einfache Wahrheiten über das Internet, Sicherheitssysteme und sozialer Interaktion in eine packende Handlung, die es ob ihrer Echtheit, ihrer schieren Realität insbesondere für Technik-Eingeweihte unmöglich macht, das Buch wegzulegen.
Doctorow spricht Wahrheiten aus, die insbesondere bei Politik, Regierungen, Polizei und Terrorabwehr so keiner hören will, die aber dennoch wahr bleiben; er tut das aber nie mit erhobenem Zeigefinger – er spricht sie einfach nur aus. Doctorow sagt klar und deutlich, dass Bürgerrechte nicht einer diffusen und nicht belegbaren Angst vor Verbrechen und Terror geopfert werden dürfen – denn wenn das geschieht, hätten die Terroristen ihr Ziel Furcht zu verbreiten mehr als erreicht.
LITTLE BROTHER sollte eine Pflichtlektüre werden. Für Internet-Affine sowieso, aber auch für solche Personen, die keine tiefen Kenntnisse des Mediums haben und insbesondere für solche, die Politikern, Medien und Konzernen gern alles abkaufen. Und es sollte allen, die das Buch lesen eindeutig klar gemacht werden, dass die beschriebenen Überwachungsszenarien keine Science Fiction sind, sondern alle schon heute machbar.
Leider werden die Unbedarfteren unter uns dieses Buch als das nehmen, was es zu sein scheint: ein SF-Roman in einer nahen aber nicht nahe liegenden Zukunft, eine erfundene Geschichte über Technik-Gimmicks und Film-stereotype, jenseits des Gesetzes agierende, »Bösewicht-Behörden« wie das DHS. Dummerweise ist LITTLE BROTHER viel mehr…
Ich spreche eine unbedingte Leseempfehlung aus. Lest das Buch. Glaubt nicht der Geschichte, aber glaubt dem, was darin an Technik beschrieben oder zu einer angeblichen Terrorismusgefahr gesagt wird. Macht euch eure Gedanken darüber, wie viel Terrorbekämpfung und Beschneidung der Bürgerrechte tatsächlich notwendig ist oder was uns für Lügen erzählt werden, um das zu begründen.
Es gibt keine Ausrede, das Buch nicht zu lesen, denn es ist auf Cory Doctorows Webseite als eBook in zahllosen Varianten kostenlos herunter zu laden. Ich habe das getan und es – wie passend – auf dem eBook-Reader gelesen. Und wenn es euch gefallen hat, dann macht es so wie ich: bestellt euch eine Printausgabe. Bestellt euch mehrere Printausgaben und verschenkt sie – auch das habe ich getan.
Und das gilt heute umso mehr. Lest das Buch und verteilt es möglichst großflächig. Doctorow weiß, wovon er spricht. Denkt darüber nach, wohin uns PRISM und Co. und ständige Überwachung führen werden. Wenn wir Angst vor dem Staat haben müssen, der eigentlich unser Staat sein sollte, dann hat der Terrorismus gewonnen – durch die Hand unserer »Staatsdiener«. Siehe auch: #oplittlebrother
Um es nochmal klar zu sagen: kein erhobener Zeigefinger, eine ungeheuer spannende Geschichte. Fundierte Gesellschaftskritik sollte immer so sein.
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LITTLE BROTHER
Cory Doctorow
Abenteuer – Gesellschaftskritik
Buch und eBook
Cover LITTLE BROTHER Copyright Harper Voyager
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