Bandit bespricht: GRETEL & HÄNSEL

GRETEL & HANSEL – Bun­des­start 09.07.2020

Das Mär­chen, also die Kun­de von selt­sa­men Vor­komm­nis­sen, war vor 200 Jah­ren eine erzäh­le­ri­sche Kunst­form, die man ins Heu­te über­tra­gen am ehes­ten mit Hor­ror­ge­schich­ten gleich­set­zen wür­de. Mär­chen sind Geschich­ten, die meist ein mora­li­sches und päd­ago­gi­sches Ziel ver­fol­gen. Wie die Läu­te­rung durch das Feu­er, eine begin­nen­de Not­wen­dig­keit zum eigen­stän­di­gen Han­deln oder die Dank­bar­keit der Ente über die ver­streu­ten Brot­kru­men. 200 Jah­re spä­ter sind Mär­chen eher put­zi­ge, unter­halt­sa­me Fan­ta­sien. Die sie­ben Zwer­ge, ein könig­li­cher Frosch, der glä­ser­ne Schuh einer anste­hen­den Prin­zes­sin. Wie wür­den sol­che phan­tas­ti­schen und tugend­haf­ten Erzäh­lun­gen eigent­lich aktu­ell inter­pre­tiert wer­den müs­sen, um deren Aus­sa­gen ins Heu­te zu über­tra­gen? SNOW WHITE AND THE HUNTSMAN oder MALEFICENT sind in die­ser Bezie­hung wirk­lich gelun­ge­ne Ansät­ze, die funk­tio­nie­ren und zu unter­hal­ten ver­ste­hen. Wie könn­te dann eine Kin­der ver­spei­sen­den Hexe neu inter­pre­tiert wer­den? Ein Geschich­te, die bereits mit HÄNSEL & GRETEL: HEXENJÄGER eine ambi­tio­nier­te, stre­cken­wei­se sogar sehr gelun­ge­ne Action-Vari­an­te erfah­ren hat­te.

Die Geschich­te ist im Grun­de mit all ihren Ele­men­ten erhal­ten geblie­ben. Ange­rei­chert ist alles mit aktua­li­sier­ten Hand­lungs­punk­ten, wei­ter­rei­chen­den Hin­ter­grün­den für eine kom­ple­xe­re Erzäh­lung, Varia­tio­nen in der Inter­pre­ta­ti­on, und natür­lich eine Geschich­te für die alte Frau, die man für eine Hexe hal­ten soll. Die Ver­schie­bung der Namens­ge­bung im Titel ist ein wesent­li­cher Punkt. Gre­tel wird wei­ter in den Vor­der­grund gerückt. Hier ist sie fast dop­pelt so alt wie ihr acht­jäh­ri­ger Bru­der. Die Ver­trei­bung aus dem elter­li­chen Haus wird dadurch plau­si­bler, weil es auch nicht unge­wöhn­lich war, dass sich zu jener Zeit Kin­der in die­sem Alter schon mit straf­fer Arbeit ein­brin­gen muss­ten. Hat Sophia Lil­lis als Gre­tel schon den Pro­log um die Geschich­te der ver­meint­li­chen Hexe aus dem Off erzählt, bleibt man auch für den Rest des Films von ihrer Stim­me nicht ver­schont. Es macht immer wie­der den Ein­druck, als hät­te man nicht das Ver­trau­en in die Kraft der sorg­sam aus­ge­klü­gel­ten Bil­der, die eigent­lich sehr expli­zit für sich ste­hen und spre­chen. Es nimmt tat­säch­lich etwas von der stets woh­lig ange­spann­ten Atmo­sphä­re.

Osgood Per­kins setzt in sei­ner Insze­nie­rung nicht auf den gewöhn­li­chen Hor­ror­ef­fekt, son­dern er bricht immer wie­der die auf­ge­bau­te Stim­mung, um unver­mit­telt gegen die Erwar­tung des Zuschau­ers anzu­ge­hen. Durch ein stän­di­ges Miss­trau­en, das mit zwei­deu­ti­gen Dia­lo­gen und ver­kan­te­te Kame­ra­ein­stel­lun­gen auf­recht gehal­ten wird, bleibt die unheim­li­che Atmo­sphä­re erhal­ten. Jump-Sca­res gibt es kaum wel­che, allein weil sie gegen die unbe­hag­li­che Grund­stim­mung arbei­ten wür­den. Und die­se hält die Regie ziem­lich hoch, denn Per­kins und sein Autor Rob Hayes haben noch viel mehr zu erzäh­len, als nur einen muti­gen Kampf gegen das Böse. Es geht auch dar­um, wie man damit umgeht. Wie man nicht nur etwas zurück­lässt, son­dern mit neu­en Her­aus­for­de­run­gen ver­fährt. Des­we­gen wird die Hexe im Film auch nie als sol­che bezeich­net, son­dern bekommt sogar den Namen Hol­da. Es ist kein lan­ger Weg, bis Gre­tel ihr Schick­sal erkennt, aber es ist ein stei­ni­ger, dies zu akzep­tie­ren. Immer wie­der wird ange­deu­tet, dass das Mäd­chen Gre­tel an der Schwel­le zur Frau steht. Und fast ein klein wenig so, wie im rich­ti­gen Leben, erfährt auch Gre­tel die­se Ver­än­de­rung nicht mit der Unter­stüt­zung des elter­li­chen Hau­ses.

 

Aber GRETEL & HANSEL ist kei­ne rei­ne Alle­go­rie über das Erwach­sen­wer­den, auch wenn die­se Wand­lung als Grund­the­ma fun­giert. Sie ist sehr prä­zi­se, den­noch nicht auf­dring­lich in die Geschich­te ver­wo­ben. Die Macher ver­ges­sen aber zu kei­ner Zeit, dass die­ses Mär­chen als Hor­ror­film kon­zi­piert wur­de. Der fünf­zehn­mi­nü­ti­ge Show­down stellt dann alles noch ein­mal auf den Kopf, auch wenn er alle Ele­men­te der ursprüng­li­chen Geschich­te mit auf­ge­nom­men hat. Und es ist gelun­gen, als Inter­pre­ta­ti­on genau­so wie als Wei­ter­füh­rung des Mär­chens. Hier hat nur Sophia Lil­lis dar­stel­le­risch weni­ger zu tun als in ihren vor­an­ge­gan­ge­nen Fil­men. Die Acht­zehn­jäh­ri­ge trägt den Film haupt­säch­lich durch ihr Cha­ris­ma, weni­ger durch spie­le­ri­sche Leis­tung, wie man von ihr sonst gewohnt ist. Dafür kann Ali­ce Kri­ge als Hol­da den Zuschau­er immer wie­der geschickt und mit sehr raf­fi­nier­tem Spiel in die Irre füh­ren. Ist sie böse, oder nicht ganz so böse, hegt sie am Ende sogar heh­re Absich­ten? Gemein ist zu sagen, ein biss­chen von allem. Ein wirk­li­cher Schwach­punkt ist aller­dings Samu­el Lea­k­ey als Han­sel. Man könn­te beschö­ni­gend her­um reden. Aber kurz gesagt: gibt es wesent­lich bes­se­re und schon gereif­te­re Kin­der­dar­stel­ler in die­ser Alters­grup­pe.

Was sehr viel zum gewollt stim­mi­gen Unbe­ha­gen in der Emp­fin­dung des Zuschau­ers bei­trägt, ist das völ­lig wider­sprüch­lich schei­nen­de Set-Design. Räum­lich­kei­ten inner­halb der Häu­ser wir­ken um eini­ges grö­ßer, als die äuße­ren Ansich­ten ver­mit­teln. Das, in Anfüh­rungs­zei­chen, Hexen­haus ver­wirrt mit gespie­gel­ten Lini­en und poly­ge­nen Struk­tu­ren. Es ver­wirrt und scheint aus der Zeit gefal­len, fast wie ein Ana­chro­nis­mus. Was in Tei­len auch auf Robin Cou­derts Sound­track zutrifft, der sehr effek­tiv die gru­se­li­ge Atmo­sphä­re auf­fängt und ver­stärkt. Atmo­sphä­re ist über­haupt das Kern­ele­ment neben der viel­schich­ti­gen Erzäh­lung. Sie ist geschaf­fen durch ein fast schon per­fek­tes Zusam­men­spiel von Insze­nie­rung, Tem­po und Rhyth­mus, im Ein­klang mit Spiel, Musik und Bil­dern. Galo Oli­va­res ver­sucht immer mit unge­wöhn­li­chen Kame­ra­win­keln und sym­me­tri­schen Ein­stel­lun­gen, auf sei­ne eige­ne Wei­se, die Atmo­sphä­re zu beein­flus­sen.

Sym­me­trie ist ohne­hin ein beson­de­res Merk­mal im Kon­zept, weil die­se immer im Zusam­men­hang mit dem Über­na­tür­li­chen steht. Sei es zum Bei­spiel das Haus selbst, oder Dia­log­sze­nen um Gre­tels unge­wis­se Zukunft. Das Gera­de, die geord­ne­ten Struk­tu­ren, die exak­te Geo­me­trie, sind im Unter­be­wuss­ten kaum mit dem im Ein­klang, wie man das unbe­herrsch­te Böse sym­bo­li­sie­ren wür­de. Nun ist GRETEL & HANSEL nicht in der Liga unmit­tel­ba­rer Klas­si­ker des Hor­ror­fil­mes, aber weit über dem Niveau gewöhn­li­cher Main­stream-Unter­hal­tung. Er berei­tet ein­fach schau­ri­ges Ver­gnü­gen, beim Anse­hen, wie beim unwei­ger­li­chen Ana­ly­sie­ren. So müs­sen sich also damals die Kin­der beim Lau­schen der Geschich­ten gefühlt haben. Ver­ängs­tigt, ver­stört – und auf alle Fäl­le nach­hal­tig beschäf­tigt.

GRETEL & HANSEL
Dar­stel­ler: Sophia Lil­lis, Ali­ce Kri­ge, Samu­el Lea­k­ey, Jes­si­ca De Gouw, Fio­na O’Shaughnessy, Charles Bab­al­la, Donn­cha Crow­ley u.a.
Regie: Oz Per­kins
Dreh­buch: Ron Hayes
Kame­ra: Galo Oli­va­res
Bild­schnitt: Josh Ethi­er, Julia Wong
Musik: Robin Cou­dert
Pro­duk­ti­ons­de­sign: Jere­my Reed
87 Minu­ten
Süd­afri­ka – Irland – Kana­da – USA 2020

Bild­rech­te: CAPELIGHT Pic­tures

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