Andrew Stern hat ein sehr intelligentes Drehbuch geschrieben, aus dem Henry Alex Rubin ein sehr intelligentes Spielfilm-Debüt inszenierte. 13 und 15 Jahre ist es her, das Rubin bei DURCHGEKNALLT – GIRL, INTERRUPTED und COP LAND bei der Second Unit die Regie übernommen hatte. Auch sehr intelligente Filme, vor allem COP LAND, der sich als einer der wenigen Ausrutscher von Sylvester Stallones präsentierte, wo man ihn einmal schauspielern sehen konnte. Es ist also anzunehmen, dass Henry Alex Rubin wirklich so lange ausharren konnte, bis ihm ein für seine Verhältnisse würdiges Drehbuch unterkam. DISCONNECT ist ein neutraler Blick auf den aktuellen Zustand unsere Gesellschaft. Verfügbarkeit zu jeder Zeit, Smartphones, Chat-Rooms, soziale Netzwerke. Eine Gesellschaft, die unvernünftiger wird, je gläserner ihr Leben für andere wird. Doch gegen was sich die Geschichte sträubt, sind wertende Ansichten. DISCONNECT ist oftmals düster, manchmal traurig, und sehr dramatisch. Aber Stern und Rubin verwehren sich dennoch jeder Stellungnahme. Denn es ist ganz klar, dass der Segen der modernen Kommunikation auch gleichzeitig Fluch ist.
Drei scheinbar unabhängig voneinander erzählte Geschichten, die nur lose durch einzelne Figuren verbunden sind. Die Reporterin Nina Dunham glaubt mit einer Story über Pornoseiten, mit Webcam-Angeboten, einen echten Knüller zu landen, bis sie das männliche Model Kyle kennenlernt, und ihm auf persönlicher Ebene aus dem Geschäft helfen will. Cindy und Derek Hull haben nicht mehr über ihre Gefühle geredet, seit sie ihr Kind verloren haben, und stellen fest, dass sie durch ihre Flucht in Selbsthilfe-Chatrooms, Opfer eines Identitätsdiebes wurden. Der pubertierende Ben Boyd, ein verschlossener Einzelgänger, glaubt in Jessica eine Seelenverwandte gefunden zu haben, die über ein soziales Netzwerk mit ihm Kontakt aufgenommen hat, nur um später herauszufinden, dass er Zielscheibe einer ganz üblen Mobbing-Aktion wurde, die fatal enden wird.
Was DISCONNECT zu einem wirklichen Glanzlicht macht, neben der höchst aktuellen Thematik, das ist sein überwältigendes Ensemble. Selbst Muntermacher Jason Bateman darf sich als wirklich ernstzunehmender Charakterdarsteller profilieren. Und eine auf ein Mindestmaß an Nebenrolle reduzierte Hope Davis strahlt in ihren wenigen Auftritten. Leider fiel auch die Rolle von Michael Nyqvist zu klein aus, von dem man gerne mehr gesehen hätte. Aber alles in allem ist diese lange Liste an überzeugenden Darstellern Garant für phantastisches Schauspiel-Kino. Allerdings hat Andrew Stern auch wirklich exzellente Figuren geschrieben. Als Beispiel der von Frank Grillo gespielte Internet-Detektiv Mike Dixon, der väterlicher Freund sein kann, um schnell zum kaltherzigen Mistkerl zu werden. Aber auch Batemans Vaterrolle, der das Schicksal seines Sohnes nicht als solches akzeptieren kann, sondern verbissen versucht, durch Einblicke in das Leben von Ben, das Geschehene zu verstehen. Zwei von einer ganzen Reihe lebensechter, nicht künstlich generierter Figuren. Weder werden die Charaktere der Geschichte untergeordnet, noch umgekehrt. Daraus wird DISCONNECT zu einer sehr spannenden, weil unvorhersehbaren Geschichte.
Jede Figur hat einen angestammten Platz, in diesem Nerven aufreibenden Ablauf von Ereignissen, die als Selbstläufer immer unkontrollierbare Auswirkungen nach sich ziehen. Cindy möchte sich ihren Schmerz von der Seele reden, wird mit Fremden im Chat-Room sehr persönlich, bis auf einmal das Kreditkarten-Konto leergeräumt ist. Da ist es längst zu spät. Folgen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Scheinbar ein Übel des digitalen Zeitalters, der aber nicht auf die Technik zurück zu führen ist. Der Fehler liegt nicht am Computer, sondern sitzt vierzig Zentimeter davor. Auch als Jason Dixon bemerkt, was er getan hat, als er sich gegenüber Ben Boyd als Jessica ausgegeben hat, ist der unlustige Streich längst nicht mehr aufzuhalten. Die Folgen eine Katastrophe. Und wenn Nina Dunham ihre Enthüllungsgeschichte zu nah an sich heranlässt, löst sie damit eine Kette von Reaktionen aus, in der jeder weitere Schritte verheerendere Konsequenzen nach sich zieht. Dunham ist ein gutes Beispiel, dass man ein Gefüge erst verstehen muss, bevor man als Gutmensch versucht, ein solches aufzureißen. Abermillionen von Menschen bewegen sich tagtäglich durch die Weiten des Weltnetzes, und man muss zwangsläufig die Frage stellen, wie viele von diesen Menschen auch verstehen, was sie dabei eigentlich tun.
Schicken wir uns wirklich lieber über 20 Minuten SMS hin und zurück, anstatt wir drei Minuten kurz direkt miteinander telefonieren? Ist uns die persönliche Kommunikation tatsächlich so vollkommen abhanden gekommen? Was den Menschen in DISCONNECT passiert, geschieht aus dem Mangel an Kommunikation. Es findet keine verbale Auseinandersetzung mehr statt, weil diese schwierig und zu emotional werden könnte. Aber daran können nicht die modernen Kommunikationsformen schuld sein. Der Nutzer schiebt diese nur als Vorwand vorneweg. So ist auch hier das Problem nicht in den sozialen Netzwerken oder Internet-Foren zu suchen, sondern bei dem Großteil von Nutzern, welche diese modernen Kommunikationsformen als Problem anprangern. In DISCONNECT geht es in erster Linie darum, dass Menschen nicht mehr miteinander reden. Konflikte werden umgangen, in dem man sie ausspart, und über andere Wege verarbeitet, die allerdings eine intime Aufarbeitung völlig außen vor lässt. Ein falscher Tastendruck ist einfacher zu ignorieren, als die Rechtfertigung für ein falsch gewähltes Wort.
Viel diskutiert ist der Höhepunkt von DISCONNECT, der in einer atemberaubenden Montage von extremen Zeitlupenaufnahmen gipfelt. Hier laufen alle Fäden zusammen, in dieser Sequenz löst sich das Dilemma aller Figuren, die sich ihrer auflösenden Konfliktsituation gegenüber sehen. Die Spannung dieser drei Handlungsstränge kulminiert in genau diesen extrem verlangsamten Szenen. Der Ausgang dieser Sequenz kann durchaus lautstark diskutiert, und sollte individuell interpretiert werden. Und genau das macht diesen Höhepunkt so einzigartig. Er ist die unterschwellige Aussage des Films an sich. Akzeptieren wir die Unannehmlichkeiten einer kaum kontrollierbaren Kommunikationsform, oder will jemand genauso individuell etwas für sich ändern. Im Film selbst wird sich nichts ändern. Die Charaktere weigern sich ihr Schicksal anzunehmen, aber sie akzeptieren den Grund, der für den Ausgang dieses Schicksals verantwortlich ist. Das hat durchaus etwas von Schizophrenie, ist im Allgemeinen aber anerkannt. Rich Boyd kann als Familienvater nicht mit seiner Frau und Tochter über die tragischen Ereignisse reden, die seinem Sohn Ben widerfahren sind. Dafür verschwindet er in der Anonymität von Internet und sozialen Netzwerken, um heraus zu finden, wie es zu Bens Schicksal kommen konnte. Dass weder Drehbuch, noch Regie wirklich Stellung beziehen, macht DISCONNECT zu einem ehrlichen Abbild unseres gesellschaftlichen Status Quo.
DISCONNECT
Darsteller: Jason Bateman, Hope Davis, Frank Grillo, Paula Patton, Alexander Skarsgård, Andrea Riseborough, Max Thieriot, Colin Ford, Jonah Bobo, Haley Ramm, Aviad Bernstein, Michael Nyqvist u.a.
Regie: Henry Alex Rubin
Drehbuch: Andrew Stern
Kamera: Ken Seng
Bildschnitt: Lee Percy, Kevin Tent
Musik: Max Richter
Produktionsdesign: Dina Goldman
zirka 115 Minuten
USA / 2012
Promofotos Copyright LD Entertainment / Weltkino Filmverleih